Spätestens nach der zurück genommenen "Osterruhe" wird darüber gestritten, ob Gottesdienste in Präsenzformen vertretbar seien. Meine persönliche Antwort ist ein klares Ja. Für dieses Ja sehe ich fünf Gründe:

1) Ein Gottesdienstverbot ist unverhältnismäßig.

Die Regeln für gottesdienstliche Zusammenkünfte sind schärfer als in anderen Lebensbereichen. In jedem Supermarkt, in jeder Arztpraxis, auf jeder Gasse komme ich Menschen unkontrollierbar näher als im Gottesdienst. Raumhöhe, Zugigkeit, höchste Vorsicht und sehr geringe Besucherzahlen (in meiner Kirche etwa 40 Personen bei 1.000 Sitzplätzen) kommen in Kirchengebäuden hinzu. Wer mit Bildern von vollen Kirchen hantiert, war ganz offensichtlich schon ewig nicht mehr im Gottesdienst.

2) Warum eigentlich traut man der Eigenverantwortung von Kirchenvorständen und Gläubigen derart wenig zu, dass man meint, autoritär von oben "anordnen" zu müssen?

Solche Obrigkeitshörigkeit ist der schwierigen Lage nicht angemessen und verhältnismäßig erst recht nicht. Es macht einen Unterschied, ob eine Kirche 1.000 Sitzplätze hat oder 50. In der einen können Gottesdienste mit Hygienekonzept noch stattfinden, in der anderen möglicherweise nicht mehr. Bei einer Inzidenz von 60 ist es noch verantwortbar, bei 100+  vielleicht zu beraten. Auf diese unterschiedlichen Situationen gingen die bisher bewährten Konzepte ein. Im Übrigen: auch bei Gottesdiensten in Präsenz kann jeder Einzelne entscheiden, ob er oder sie teilnehmen möchte oder lieber nicht. Entscheidungen von oben entmündigen die Bürger ohne Not; das ist meiner Ansicht nach undemokratisch.

3) Glaube ist "leib-haftig".

Schon Paulus kämpfte vor 2.000 Jahren dagegen, den Glauben als etwas nur "Spirituelles" zu verstehen. Glaube umfasst auch das Körperliche und Materielle, er ist "handfest". Persönliche Begegnung und Kontakt sind ur-menschlich; das kann man nicht verbieten. Die in letzter Zeit viel gepriesene Virtualität des Glaubens offenbart nicht nur mancherlei kläglichen Dilettantismus; sie zeigt mit ebensolcher Deutlichkeit, dass das Betrachten eines Video-Bildchens eben keine echte Begegnung ist. Wer nur ein einziges Mal mit 20 Menschen per Zoom ein Vaterunser "gebetet" hat, weiß genau, dass man sich so etwas heftigst "schönreden" muss, um es als Ersatz für persönliche Begegnung akzeptieren zu können.

4) Aus Solidarität schließen?

Es wird gefordert, die Kirche möge Solidarität mit denen zeigen, die auch schließen müssten: Gastwirte, Friseure, Geschäfte. Diese Argumentation offenbart ein falsches Verständnis von Solidarität. Dem Patienten hilft es nichts, wenn der Arzt sich aus Solidarität selbst ansteckt. Dem Gastwirt nützt es nichts, wenn auch die Kirche zu hat. Im Gegenteil: Kirche und Gottesdienst sind ein Ort, an dem die auch Stimme gerade DIESER Pandemie-Opfer zu Wort kommt. Hier erklingt die solidarische Klage für den in seiner Existenz bedrohten Ladenbetreiber ebenso wie für die Pflegekraft, für die verhaltensauffälligen und psychisch angeschlagenen Jugendlichen genauso wie für die an Corona Erkrankten. DAS ist Solidarität.

5) Gerade in der Pandemie haben Menschen die Osterbotschaft nötiger denn je.

Da geht es nicht um Besitzstandswahrung, sondern um die Zusage, dass wir mitten in all diesem Leiden nicht alleine sind. Wenn schon der Politik nichts anderes einfällt, als immer mehr zu drohen und zu verbieten, dann muss wenigstens in der Kirche die Hoffnung auf das Leben erklingen. Sie muss auch spürbar werden für jene, die kein Internet haben oder die daheim völlig alleine sind. Geben wir diesen Anspruch auf, haben wir unseren Auftrag als Kirche verfehlt.

Präsenzgottesdienste in Corona-Zeiten

Wie erleben Sie die Situation vor Ort in Ihrer Kirche - was sind Ihre Erfahrungen mit Präsenzveranstaltungen in Gemeinden in Corona-Zeiten? Schreiben Sie uns, wenn auch Sie Interesse daran haben, Ihre Meinung im Rahmen eines Gastbeitrags zu veröffentlichen.