Am Eingang zum Tagungssaal der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Dresden bleibt er stehen. Gerade beginnt die Andacht vor dem Schwerpunkt "Aufarbeitung sexualisierter Gewalt". Als Junge wurde er im vermeintlichen "Schutzraum" der Kirche missbraucht. Heute erträgt er es nicht mehr, wenn Geistliche auf der Kanzel von der Liebe Gottes reden. Er hat anderes erfahren. Der Missbrauch zerstörte sein Leben.

Kerstin Claus musste mit 14 Jahren Ähnliches erleben. Claus gehört dem Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung an. Vor der EKD-Synode redet sie Klartext. "Null Toleranz mit Tätern und Mitwissern", die der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm bei der Synode 2018 forderte, sei bislang nur ein Lippenbekenntnis. Nach wie vor würden Täter in der Kirche zum Teil nur versetzt anstatt entlassen. Institutionelle Aufarbeitung dürfe, wenn sie ernst gemeint ist, aber nicht verschleiern, sondern müsse Taten aufdecken und öffentlich benennen, sagte Claus. Und die Bedürfnisse der Betroffenen müssen in den Mittelpunkt gestellt werden. Bislang billige man ihnen nur die Rolle der Zeugen zu.

Unabhängigen Anlaufstelle für Betroffene

Im vergangenen Jahr von der EKD beschlossen und inzwischen umgesetzt ist die Einrichtung einer von der Kirche unabhängigen Anlaufstelle für Betroffene. Hier gingen seit Juli etwa 200 Meldungen ein. Insgesamt sind EKD-weit 770 Missbrauchsfälle dokumentiert. Manche Taten liegen mehrere Jahrzehnte zurück. Der bayerische Kirchenjurist Nikolaus Blum vom ebenfalls Ende 2018 eingerichteten EKD-Beauftragtenrat betont, es gehe nicht nur um den Missbrauch durch Geistliche; Fälle sexualisierter Gewalt gebe es in allen kirchlichen Berufsgruppen. Erst jüngst wurde der Fall eines Übergriffs zwischen Jugendlichen bei einem Zeltlager in Oberbayern öffentlich.

Sprecherin des EKD-Beauftragtenrats ist die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs. In Dresden kündigte sie die Gründung eines Betroffenenbeirats nach dem Beispiel der Bundesregierung an. Die EKD-weite Gewaltschutzrichtlinie bezeichnete sie in ihrem bericht als einen Meilenstein. Wie diese Richtlinie zur Prävention, Intervention und Aufarbeitung von Missbrauch Anwendung findet und umgesetzt werden kann, ist Aufgabe der Landeskirchen.

Kerstin Claus hat in Dresden darauf hingewiesen, dass die Aufarbeitung sexueller Gewalt im Raum der Kirche kein Sprint, sondern ein Marathon ist. Trotz aller Rückschläge und ihrer eigenen Missbrauchsgeschichte hat sie eine Vision von einer Kirche, die beim Thema sexualisierte Gewalt vorangeht und stets die Schwächsten schützt. Das ist und bleibt eine Herausforderung für alle in der Kirche.