Das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel hat in seiner Ausgabe zu Ostern wieder einmal die Glaubenskrise zum Thema gemacht "Wer glaubt denn so was? – Warum selbst Christen keinen Gott mehr brauchen" leuchtete in himmelblauen Lettern auf dem Titel. Einer Umfrage zufolge glaubt nur noch etwas mehr als die Hälfte der Deutschen (55 Prozent) an "einen Gott", unter Protestanten sind es noch zwei Drittel (67 Prozent). Die innere Distanz zum Kernbestand des christlichen Glaubens nimmt also weiter zu. An die Auferstehung Christi glauben noch 58 Prozent der evangelischen Christen.

Der Brand von Notre-Dame in der Karwoche wurde vielfach als Zeichen für den schleichenden Verfall des Christentums gedeutet. Eine brennende Kirche ist von hoher Symbolkraft. Viele beschlich das Gefühl, dass die Flammen an einem Pfeiler der europäischen Identität, der europäischen Kultur nagen. Der Brand führte vor Augen, dass in einer globalisierten Welt unsere kulturellen Wurzeln verloren zu gehen drohen, dass wir heimatlos werden. Ist in den lodernden Flammen des Pariser Nachthimmels mehr verloren gegangen als ein Dachstuhl? Markiert die minutenschnelle Zerstörung des Gebälks die Demontage der letzten christlichen Bastionen?

Man lernt etwas dann schätzen, wenn es unwiederbringlich verloren zu gehen droht

Man kann sich auch an die positive Symbolik halten: Wenige Tage vor dem Brand wurden 16 Kupferfiguren für Restaurierungsarbeiten vom Dach der Kathedrale geholt. Das waren nicht irgendwelche Figuren, sondern die zwölf Apostel und die vier Evangelisten. Und das goldene Altarkreuz strahlte am Tag nach dem Brand inmitten der herabgestürzten Trümmer. Christen wissen aber auch so, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens nicht in einem brennenden Gebäude untergeht.

Notre-Dame vermittelte noch eine weitere Botschaft: Man lernt etwas dann schätzen, wenn es unwiederbringlich verloren zu gehen droht. Gläubige und Atheisten, Pariser Bürger und ausländische Touristen bangten in der Brandnacht zusammen hoffend oder betend um einen Sieg der Feuerwehrleute über die Flammen. Die Sehnsucht nach einer Rettung des französischen Nationalheiligtums einte gläubige und säkulare Franzosen – und Europäer – in dem Augenblick, als es vor dem Untergang stand.

Die Steine der versehrten Grundmauern von Notre-Dame haben sich mittlerweile abgekühlt, der Wiederaufbau ist durch Millionenspenden gesichert. Das Bauwerk wird Bestand haben. Und der Glaube an Gott? Er wird weniger. Aber Gott glaubt an uns. Und wir werden ihn auch in Zukunft brauchen.