Aufwachen in Belém, den Regen hören. Aufwachen in São Paulo, die U-Bahn rattert vorbei. Aufwachen in Salvador, die Wellen, sie locken mich nach draußen. Einschlafen in Rio de Janeiro, Schüsse hören, wach bleiben - was ist hier eigentlich los?

Meine Reise durch Brasilien hat mich an zehn Orte geführt, die Distanzen sind so groß, zehn Orte sind zehn Welten. Der europäisch geprägte Süden, die afrikanisch geprägte Region um Salvador de Bahia, der Amazonas im Norden, wo Opernhäuser und die Villen der Kautschukbarone stehen, in Belém heißen die großen Straßen nicht "Avenidas" wie sonst überall, sondern "Boulevards" – hier sollte ein zweites Paris entstehen, eine Utopie. Was tatsächlich entstanden ist: eine Großstadt am Wasser, schön und arm, zurzeit sehr verunsichert, denn durch den Dschungel werden Drogen und Waffen geschmuggelt, die Arbeitslosigkeit ist hoch.

Salvador in Brasilien

Land im Chaos und Einzelschicksale

So langsam erreichen die Nachrichten aus Brasilien auch uns hier in Deutschland. Korruptionsskandale, Gewalt, organisiertes Verbrechen – war das nicht irgendwie schon immer so dort? Aus der Entfernung erscheinen die politischen Ereignisse Brasiliens wie eine einzige große Telenovela. Auf Eskalation folgt Absturz folgt Drama. Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung kommt der Fall. Nach der Armutsbekämpfung unter Lula kommen die harten Kürzungen und die Abschaffung aller Sozialprogramme unter Temer. Vor wenigen Tagen wurden in Brasília Ministerien in Brand gesetzt und Demonstranten von Polizisten verletzt. Hunderttausende im ganzen Land fordern Temers Rücktritt, täglich gibt es Protestaktionen. Dutzende Politiker sitzen im Gefängnis oder stecken in Gerichtsverfahren. Chaos.

Aus der Nähe betrachtet, sieht man die Einzelnen. Den Mann aus dem Dorf, der sich in der Großstadt Vitória im Krankenhaus behandeln lassen muss, dort aber niemanden kennt und sich kein Zimmer leisten kann. Die Mutter in Rio, die den langen Weg in die Kita ihres Kindes läuft, weil sie sich den Bus nicht für Hin- und Rückfahrt leisten kann. Die Indigenen, in deren Territorium ein Staudamm gebaut wurde und denen nicht mal Bescheid gegeben wurde, bevor die Flut kam.

"Brasilien steckt gerade in einer wirklich tiefen Krise"

"Unmenschlich, ungerecht und unbarmherzig" sei sein Land, hat mir ein brasilianischer Pfarrer gesagt. Stimmt wohl. Aus der Nähe betrachtet, sieht man aber zum Glück auch die, die helfen. Die vielen Projekte der Kirchen, der katholischen und evangelischen, die sich für Kinder, Frauen, Kranke und Indigene einsetzen. Auch wenn das unter einer Regierung, die sich den gesellschaftlichen Rückschritt zum Ziel gemacht hat, immer schwieriger wird.

"Brasilien steckt gerade in einer wirklich tiefen Krise", sagen auch die, die wissen, dass es noch nie leicht in diesem Land war. Und es tut weh, nach einen Monat voller Begegnungen und Gespräche mit erst mal wenig Hoffnung zurückzukehren. Wenn mich meine Freunde fragen: Hey, wie war es in Brasilien? Dann beginne ich: "Puh…." Strände, Urwald, Samba, das süße Leben - natürlich gibt es das auch. Gerade redet in Brasilien nur fast keiner darüber.