Herr Boff, mit den Bränden im Amazonasgebiet dramatisiert sich der Klimawandel. Sie warnen seit vielen Jahren vor einer ökologischen Katastrophe und fordern ein Umdenken.

Leonardo Boff: Wir können gar nicht schnell genug handeln und umkehren, weil sonst gar kein Rückweg mehr möglich sein wird. Die Klimaerhitzung ist da. Jeder kann sie selbst erfahren bei extremen Klimaereignissen. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Erde ihr Gleichgewicht verloren hat und sie ein neues sucht, welches viele Opfer an Lebewesen und auch an menschlichem Leben mit einschließen kann.

Abgesehen von der aktuellen umweltfeindlichen Politik des brasilianischen Präsidenten: Warum reagieren Politik und Wirtschaft weltweit so spät und so zögerlich?

Boff: Weil alle Angaben der verschiedenen ökologischen Wissenschaften im Grunde das gegenwärtige System infrage stellen. Sie verlangen eine andere Form der Produktion, des Konsums und der Verteilung der natürlichen Ressourcen, insbesondere aber eine andere Beziehung zur Natur und zur Erde – eine, die nicht von Angriff und Ausbeutung geprägt ist, sondern von Respekt und Achtsamkeit. Dass man in eine Synergie und Kooperation mit den Rhythmen der Natur gelangt. All diese wissenschaftlich-ökologischen Erkenntnisse schaden allerdings der Kultur der Geschäfte und der grenzenlosen Anhäufung von Reichtum. Es gibt nur die Alternative:

Wir ändern uns, oder aber wir gehen unter.

Es muss sich also ganz grundlegend etwas ändern?

Boff: Ja. Die weltweite Krise hat direkt mit der immer noch auf der ganzen Welt herrschenden Produktionsweise zu tun, nämlich der kapitalistischen. Deren Dynamik führt zu einer beschleunigten Anhäufung von Reichtum in der Hand weniger auf Kosten einer erschreckenden Ausplünderung der Natur und der Verarmung der großen Mehrheit der Menschen. Wir müssen also die fatale Logik dieses Wirtschaftssystems schrittweise überwinden. Das Leben, und nicht das Wachstum, muss das große planetarische und auch nationale Projekt sein.

Haben Sie denn überhaupt noch Hoffnung? Ist ein Abwenden der Klimakatastrophe noch möglich?

Boff: Wenn ich mir die wissenschaftlichen Daten anschaue und die ungenügenden Maßnahmen der Staaten angesichts der ökologischen Frage wahrnehme, werde ich pessimistisch. Der große Soziologe Zygmunt Bauman hat uns gewarnt: Entweder wir arbeiten zusammen für die Bewahrung der Schöpfung, oder wir vergrößern den Zug derer, die in Richtung ihres eigenen Begräbnisses gehen. Als Glaubender nehme ich aber die Aussage des biblischen Weisheitsbuches ernst: "Gott ist ein leidenschaftlicher Liebhaber des Lebens." Ich hoffe, dass Gott das Leben bewahren wird und er diese Katastrophe nicht zulässt.

Also resignieren Sie nicht?

Boff: Zu resignieren und nichts zu tun wäre die schlechteste Haltung, die wir einnehmen können. Denn sie bedeutet einen Verzicht auf schöpferische Auswege. Wir sollten vor allem eine emotionale Verbundenheit zur Erde schaffen, dass wir mit Verständnis, Mitgefühl und Liebe für sie sorgen. Wir sind dazu aufgerufen, unser Empathievermögen auf alle Lebewesen auszudehnen, ja sogar auf den Boden, die Luft und das Wasser, die ebenfalls ein Teil von uns sind.

Wir müssen wieder erkennen, dass die Erde unsere Mutter ist.

Manche sagen allerdings, dass die Vorstellung der Erde als "großer Mutter" nicht christlich sei.

Boff: Dass die Erde die große Mutter ist, ist eine wissenschaftliche Feststellung. Alles, was existiert und lebt, kommt von der Erde. Sie schenkt uns alles, was wir zum Leben brauchen. Sie benimmt sich wie eine Mutter. Daher ist die lebendige Erde, die Mutter Erde, ein Subjekt, dem Würde zukommt. Die UNO hat am 22. April 2009 nach einer langen Diskussion, an der ich selbst teilgenommen habe, beschlossen, dass der "Tag der Erde" am 22. April künftig als "Tag der Mutter Erde" begangen werden soll. Mit der Anerkennung der Würde der Erde und ihrer Rechte beginnt eine neue Zeit, eine Zeit der Biozivilisation, in der die gemeinsame Zugehörigkeit von Erde und Menschheit, ihr gemeinsames Schicksal anerkannt werden.

Der Mensch ist also selbst ein Stück Erde?

Boff: Ja, der Mensch ist selbst Erde in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Entwicklung. Mit dem Menschen begann gewissermaßen die Erde selbst aufrecht zu gehen, bewusst zu fühlen, zu denken, zu lieben, sich um andere zu sorgen und Ehrfurcht zu empfinden. Sich selbst als Erde zu empfinden heißt, sich in die irdische Gemeinschaft hineinzubegeben, in die Welt unserer Brüder und Schwestern einzutauchen, wie dies Franziskus von Assisi beispielhaft gelebt hat. Aus der tiefen Erfahrung der Mutter Erde wird wie selbstverständlich die Erfahrung Gottes als einer unendlich zärtlichen und sich erbarmenden Mutter erwachsen.

Wie gelingt es Ihnen persönlich, die Vision eines nicht zerstörerischen Lebens in Gemeinschaft mit allem Leben umzusetzen?

Boff: Ich versuche, den Geist des heiligen Franziskus von Assisi zu leben und zu aktualisieren, da ich Franziskaner war und von Anfang an in dieser Spiritualität erzogen wurde. Ich bewundere jede Erscheinung des Lebens, angefangen mit den Ameisen, die oft durch mein Haus laufen, bis zu jeder kleinen Blume des Feldes. Und ich versuche, mit immer weniger zu leben und eine besondere Sorge für die Armen zu tragen, die uns den Gekreuzigten vergegenwärtigen und um eine Auferstehung schreien.

Wie konnte denn die Menschheit dem ökologischen Kollaps so nahe kommen?

Boff: Die Väter der Moderne im 16. Jahrhundert, wie Descartes, Bacon, Newton und andere, betrachteten die Erde als etwas Totes, als eine Art Kasten von natürlichen Ressourcen, die zu unserer Benutzung zur Verfügung stehen – und deren Reichtümer zur Ausbeutung da sind. Der Kern dieses Paradigmas war der Wille zur Macht über die Natur, über die Völker, über das ganze Lebensystems und über die Erde. Daraus ist das moderne techno-wissenschatliche Paradigma entstanden, das so viele Vorteile für unser Leben geboten hat und zugleich zu unserer Tragödie geworden ist: Diese Weltanschauung hat eine Todesmaschine geschaffen – mit nuklearen, chemischen und biologischen Waffen –, welche das ganze Leben der Erde und die ganze Menschheit vernichten kann. Diesen Weg weiterzuführen würde den Selbstmord unserer Menschheit bedeuten.

Was müssen wir heute tun?

Boff: Die Menschen müssen auf alle Gewalt gegen die Ökosysteme der Erde verzichten und sich wieder als Glieder der Natur verstehen. Sie müssen den ethischen Auftrag erkennen, die Natur zu bewahren. Diese ökologische Bekehrung verlangt auch Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Laudato Si" als Bedingung für unser Weiterleben auf dieser Erde. Diese Bekehrung muss bei jedem Einzelnen beginnen: Jeder sollte bei sich selbst anfangen.

Und was wären global nötige Schritte?

Boff: Der Norden muss den Rückzug von seiner Konsumgier in Richtung Nachhaltigkeit antreten, um dem Süden eine nachhaltige Entwicklung in Harmonie mit der Gemeinschaft des Lebens zu ermöglichen. Man sollte Ernst machen mit den sogenannten vier "W": "Weniger", "Weiterbenutzen", "Wiederverwerten" und "Wiederaufforsten". Anderenfalls vergrößern wir die Gefahr, keine Zukunft für unser Leben auf der Erde mehr zu haben.

Inwiefern müssen sich dabei auch Kirche und Theologie bewegen?

Boff: Eine radikale ökologische Bekehrung ist nötig. Religionen und Kirchen haben dabei eine pädagogische Aufgabe, nämlich der Menschheit ein neues Bewusstsein zu erwecken und die ethisch-spirituelle Mission zu übernehmen, die Erde als die heilige Gabe Gottes zu bewahren und zu hegen, damit wir nicht alle mit unserer gemeinsamen Wohnung zugrunde gehen. Jedes Wissen, auch das theologische oder das religiöse, muss mit je seinen Mitteln dazu beitragen.

INFO

LEONARDO BOFF (80) ist ein brasilianischer katholischer Theologe und einer der Hauptvertreter der Befreiungstheologie. Im Jahr 1985 erteilte der Vatikan Boff ein einjähriges Rede- und Lehrverbot, durch das er weltweit bekannt wurde. Boff hatte die "wahre Kirche" des Heiligen Geists gegen die "falsche" Kircheninstitution mit ihren Machtansprüchen über die Gläubigen gestellt und dabei ausdrücklich auf die Reformation Bezug genommen. Kardinal Ratzinger warf ihm vor, er würde leugnen, dass Jesus Christus eine bestimmte Kirchengestalt befohlen habe, sodass andere Kirchenmodelle als das katholische aus dem Evangelium heraus denkbar würden. Nach der Aufgabe seines Priesteramts übernahm Boff 1992 den Lehrstuhl für Ethik und Spiritualität an der Staatsuniversität in Rio de Janeiro.

Buch-Tipp

Zukunft für Mutter Erde

Leonardo Boff: Zukunft für Mutter Erde – Warum wir als Krone der Schöpfung abdanken müssen, Claudius Verlag, München 2012, 320 Seiten, 22,80 Euro.

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