Die Nazis nahmen ihm seine Freiheit und töteten seine Familie. Über das Arbeitslager Budzyn und das KZ-Außenlager Wieliczka gelangte Jakub Szabmacher 1944 ins KZ Flossenbürg. Als Jude war er besonders gefährdet. Der damals 14-Jährige dachte nur ans Überleben.

Seine Befreiung am 23. April 1945 war alles andere als ein Freudentag, sagte er dem Sonntagsblatt. 1945 wanderte er in die USA aus, nannte sich Jack Terry und wurde Psychiater in New York. Seit 1995 kehrt er jedes Jahr an den Ort seiner Qualen zurück - bis auf dieses Jahr. Das Coronavirus hat seine Rückkehr verhindert.

Sonntagsblatt: Herr Terry, weckt die Pandemie Erinnerungen bei Ihnen?

Terry: Die Absage der Gedenkfeiern besonders zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg aufgrund der Coronavirus-Pandemie ist für mich sehr bedeutsam: Obwohl die soziale Distanzierung, die Freiheitsbeschränkungen und die Isolation ja gute Gründe haben, rufen sie in mir und in meinen Träumen die Erinnerung an die Lager hervor. Ich werde auch wieder mit der Isolation und der Einsamkeit in den Lagern konfrontiert. Auch jetzt sind wir alle mit uns selbst allein.

Ist es für Sie besonders schmerzlich, dass es gerade zum 75. Jahrestag nur ein stilles Gedenken geben wird?

Terry: Es ist bedauerlich, dass die Befreiungsfeierlichkeiten dieses Jahr nur ein stilles Gedenken sein werden, wie Sie sagen. Hoffentlich können wir den 75. Jahrestag im kommenden Jahr nachfeiern, wie bei den Olympischen Spielen.

Was sind Ihre tiefsten Erinnerungen an die Lagerhaft im KZ Flossenbürg?

Terry: Mit Flossenbürg verbinde ich Tod, nicht einen kurzen natürlichen Tod, sondern einen demütigenden, quälenden, erniedrigenden und entmenschlichenden Tod. Wir erlitten und wurden in Flossenbürg Zeugen eines Abhandenseins jeglicher Art von minimaler Hygiene, die Allgegenwart von Läusen und Typhus, von chronischem Hunger, bitterster Kälte, konstanter Todesangst, Schlägen, Exekutionen und Mord. Mein Schicksal schien besiegelt durch den Kamin des Krematoriums, wenn die amerikanische Armee nicht gekommen wäre, wie sie es tat.

Wie haben Sie den Tag der Befreiung erlebt?

Terry: Die Befreiung des KZ Flossenbürg am 23. April 1945 war der traurigste Tag meines Lebens. Es war zum ersten Mal seit Jahren, dass ich mir erlaubte, an andere Dinge zu denken als an mein Überleben. Um es genau zu sagen: den Verlust meiner gesamten Familie. Für mich begann damals der niemals endende Prozess des Trauerns. Die jährlichen Überlebendentreffen sind zum Teil eine Art gemeinsamer Trauer. Genauso wie wir als Individuen versuchen, immer wieder unsere nicht heilen wollenden Wunden aufzuarbeiten, falls dies überhaupt möglich ist. 

Wie haben Sie Ihre erste Rückkehr nach Flossenbürg erlebt?

Terry: Ich kehrte 1995, zum 50. Jahrestag der Befreiung, nach Flossenbürg zurück und erkannte den Platz kaum wieder. Die Lageranlage war vollständig vernachlässigt. Man hatte eindeutig versucht, den ungeheuerlich verbrecherischen Schauplatz zu vertuschen. Der Appellplatz, auf dem wir zweimal am Tag für Stunden in der schneidenden Kälte des Oberpfälzer Windes stehen mussten, nur um gezählt zu werden. Auf diesem Appellplatz war jetzt die Fabrik eines multinationalen Unternehmens. Und wo die Baracken standen, waren Familienhäuser gebaut worden.  Für mich war das ein offensichtlicher, beschämender Versuch einer Verschleierung und Verleugnung dessen, was hier geschehen war. Ich war sehr enttäuscht und beabsichtigte, niemals mehr zurückzukehren. Aber ich tat es - jedes Jahr.

Was war Ihre Motivation?

Terry: Ich wollte helfen, diese Verschleierung und Verleugnung rückgängig zu machen. Diesen ehemaligen beispiellosen Ort des Schreckens in eine geeignete Gedenkstätte für diejenigen zu verwandeln, die hier ums Leben kamen. Und vor allem, für kommende Generationen einen speziellen Lernort, einen gut dokumentierten Geschichtsort zu machen für das, was hier geschah, und an den anderen Plätzen dieser sogenannten zivilisierten Welt.

Hat die Menschheit aus dem Holocaust gelernt?

Terry: Bis dato habe ich das Gefühl, dass die Welt immer noch nicht genug gelernt hat aus unserer Vergangenheit, dem Holocaust. Und was mich am meisten irritiert, ist das neuerliche starke Aufkommen des Judenhasses. Wieder! Oft bringen uns aktuelle Ereignisse dazu, die Vergangenheit zu erinnern. Noch einmal (mit Ironie): Als die Anweisungen zur Eindämmung der Pandemie angekündigt wurden, verschwand als erstes das Toilettenpapier aus den Regalen der Supermärkte. Nein, es gab kein Toilettenpapier in Flossenbürg!