Die Wissenschaftler sprechen von "Dominoeffekten" und einer sich selbst verstärkenden Klimaerwärmung. Das könnte bedeuten, dass die Risiken unumkehrbarer Veränderung womöglich unterschätzt worden sind. "Wir befinden uns bereits in einem planetaren Notfallzustand", sagte Schellnhuber im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst epd. Der in Niederbayern geborene Wissenschaftler, der auch dem Weltklimarat angehört, hat am Donnerstagabend die neuesten Fakten und Konsequenzen bei einem Vortrag an der Universtität Regensburg vorgestellt. 

 

Herr Schellnhuber, Sie gehen davon aus, dass der Klima-Notstand schon weiter vorangeschritten ist als bisher angenommen. Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?

Hans Joachim Schellnhuber: Alle Welt spricht über den Klimanotstand, aber bisher gab es wenige Versuche, wissenschaftlich zu beschreiben, was damit gemeint ist. Und zweitens haben bislang zu wenige Analysen gezeigt, wie weit wir in diesen Zustand schon hineingeraten sind.

Dass wir bei der Erderwärmung nicht nur graduelle Veränderungen erfahren, sondern dass bestimmte wichtige Teilsysteme in der globalen Umwelt kippen und in einen anderen Zustand geraten könnten, haben wir schon vor ein paar Jahren gezeigt.

Zum Beispiel könnte der Golfstrom stark gestört werden. Grönland könnte komplett abschmelzen, was dann einen Meeresspiegelanstieg von möglicherweise sieben Metern bedeuten würde. Wenn alles Eis der Antarktis abschmelzen würde, wäre das sogar noch viel mehr - über einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten, aber es wäre jenseits eines gewissen Schwellenwertes der globalen Erwärmung ein unaufhaltsamer Vorgang. Jetzt sehen wir, das ist das Neue, dass manche dieser Kipp-Elemente unter Umständen rascher kippen könnten als gedacht.

Was sind diese Kipp-Punkte, unter welchen Bedingungen treten sie ein?

Schellnhuber: Es gibt Schwellenwerte, auch wenn die nicht so ganz genau zu bestimmen sind. Wird ein Element des Erdsystems über diesen je unterschiedlichen Schwellenwert gedrückt, so kippt es. Eine wichtige Erkenntnis ist nun, dass die verschiedenen Kipp-Elemente wohl stärker miteinander in Wechselwirkung stehen als bislang gedacht. Und die Einschätzung, wann bei welcher Temperaturerhöhung die roten Linien überschritten werden, hat sich radikal verändert.

Vor etwa 20 Jahren beim Weltklimabericht, an dem ich in führender Rolle teilgenommen habe, haben wir gedacht, dass solche Kipp-Prozesse wie der mögliche Kollaps des Amazonas-Regenwaldes, das Abschmelzen Grönlands, die Störung des Golfstroms - alles Dinge, die für die globale Umwelt essenziell sind -, dass die Gefahr, dass das wirklich geschieht, irgendwo bei vielleicht fünf bis sechs Grad Erderwärmung liegt. Inzwischen haben wir aber festgestellt, dass bei ein paar Kipp-Elementen das Risiko möglicherweise schon irgendwo zwischen ein und zwei Grad deutlich zunimmt, das muss man sich einmal vorstellen. Wir haben jetzt schon über ein Grad Erderwärmung. Das heißt, wir sind vom Verlust der tropischen Korallenriffe nicht mehr weit entfernt.

Wie viel Zeit bleibt noch bis zur Unumkehrbarkeit solcher Prozesse?

Schellnhuber: Nach neuesten Erkenntnissen kommen wir zu dem Ergebnis, dass es vielleicht in 50 Jahren soweit ist, dass manche Prozesse unumkehrbar werden - wenn wir wirklich einfach weitermachen wie bisher mit dem Ausstoß von Treibhausgasen.

Natürlich gibt es da Unsicherheiten. Aber Risiko ist Wahrscheinlichkeit mal Schaden. Wenn der Schaden sehr groß wäre, dann kann auch schon eine geringe Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass unter dem Strich das Risiko erheblich ist. Und wenn diese Großunfälle tatsächlich passieren, dann geraten wir in eine sehr schwierige Lage, ungeheure Kosten, wahrscheinlich Verlust von vielen Menschenleben. Das sind dann Prozesse, die sich über Jahrhunderte hinziehen können, das geschieht alles nicht von einem Tag auf den anderen. Aber nach erdgeschichtlichen Maßstäben eben doch recht rasch.

Und wie lange brauchen wir, um die gesamte Wirtschaft frei von fossilen Brennstoffen zu machen?

Schellnhuber: Wir sollten bis etwas Mitte des Jahrhunderts klimaneutral werden. Dann kommen wir also auf 30 Jahre, die uns hierfür bleiben. Es muss also unmittelbar etwas geschehen. Je später wir handeln, desto schwieriger und teurer wird es. Stellen Sie sich vor, zwei Flugzeuge fliegen aufeinander zu, und im Tower sieht man das. Die Reaktionszeit ist vielleicht zehn Sekunden, aber sie haben noch 20 Sekunden bis zum Crash, das ist eine Notlage. So ähnlich definieren wir den planetaren Notfallzustand jetzt.

Nicht alle wollen das hören. Ihnen wird auch Alarmismus vorgeworfen, was entgegnen Sie?

Schellnhuber: Der Mann im Ausguck der Titanic, der den Eisberg gesehen hat und schrie ?Maschinen stopp?, war das ein Alarmist? Nein, er hat Alarm geschlagen. Ich nehme diesen Vorwurf inzwischen fast schon als eine Ehrenbezeichnung. Das heißt, dass ich die Menschen darauf hinweise, dass wir uns in einem akuten Notstand befinden. Als Wissenschaftler ist es meine Pflicht und Schuldigkeit, darüber aufzuklären. Die meisten Menschen müssen sich in ihrem Alltagsleben doch um ihre Arbeit kümmern, um ihre Familien, viele sind in je ihrem Gebiet Fachleute, aber sie können nicht alle Klima-Experten sein. Das muss schon derjenige kommunizieren, der sich seit 30 Jahren damit beschäftigt.

Sie sagen, wir brauchen ein neues Narrativ für die Moderne. Welches ist das? 

Schellnhuber: Die Moderne kommt in eine Krise wegen des Klimaeffekts. Das CO2, das wir umsetzen, schlägt gewissermaßen zurück und treibt uns auf diese Kipp-Punkte zu. Aber was wäre denn, wenn wir das Treibhausproblem nicht hätten, wäre dann alles in Ordnung mit der Moderne?

Ich will den Finger in diese Wunde legen, dass wir uns durch hemmungslose Plünderung der Ressourcen und Zerstörung der Artenvielfalt auf dem Planeten eigentlich in eine unmögliche Lage manövriert haben. Zum Beispiel halte ich manche Teile der industriellen Landwirtschaft, die Art, wie inzwischen vielfach Fleisch produziert wird, für eine Verirrung der Menschheit. Die industrielle Moderne ist überall an ihre Grenzen gestoßen.

Das Klimaproblem hält uns hier nur den Spiegel vor, in dem wir die hässliche Fratze der Moderne erkennen. Wir sollten also darüber nachdenken, dass wir eine neue Erzählung der Moderne finden, die nicht einfach nur auf dem Götzen Wachstum aufgebaut ist.

Kommen Sie sich manchmal vor wie ein Rufer in der Wüste?

Schellnhuber: Es gibt schon Tage, wo man richtig verzweifelt ist. Aber es gibt auch Tage, an denen man einen Brief bekommt von jemandem, der mein Buch "Selbstverbrennung" gelesen hat und sagt, dass es sein Leben verändert hat. Oder es gibt junge Leute, die auf die Straße gehen. Ich tröste mich damit: In der Nacht ist es am schwärzesten, kurz bevor die Sonne aufgeht. Und jetzt ist sie besonders schwarz, also wird die Sonne bald aufgehen.