Im idyllisch gelegenen Haus Martinsruh in der Fränkischen Schweiz befindet sich seit 1991 eine soziotherapeutische Einrichtung für alkoholabhängige Menschen. Suchtkranke können dort eine Zeit lang leben, mindestens sind das 18 Monate. Wer in die Einrichtung der Stadtmission Nürnberg geht, tut dies freiwillig. Der Betroffene selbst, in der Regel unterstützt von seiner Familie oder Angehörigen, stellt einen Antrag, erklärt der Leiter der Einrichtung, Rainer Benner. Grundvoraussetzung für den Einzug: ein erfolgreich absolvierter körperlicher Entzug. Dieser dauert in einer Klinik sieben bis zehn Tage.

Der psychische Entzug, der dann folgt, ist schwieriger, stellt Benner fest: "Das muss man sich vorstellen wie einen extremen Heißhunger auf Schokolade. Nur fällt das Verlangen nach Alkohol ungefähr zehn Mal stärker aus." Eine weitere Bedingung für eine Aufnahme ins Haus Martinsruh ist die Bereitschaft, Alltagsstrukturen neu zu erlernen. Dies sei zwingend notwendig für einen erfolgversprechenden Aufenthalt. Es gibt, wie Benner betont, "verpflichtende Elemente im Tagesablauf wie die gemeinsamen Mahlzeiten und die Morgenrunden". Das fange mit einer ausgewogenen Ernährung an. "Die Klienten sollen verstehen, dass ein gesundes Frühstück nicht aus einem kalten Pichelsteiner Eintopf aus der Dose und einer halben Schachtel Zigaretten besteht."

Mit dem soziotherapeutischen Entzugsmodell hat Frank N., mittlerweile 65 Jahre alt und ehemaliger Industriemechaniker, positive Erfahrungen gemacht. Er ist einer der ehemaligen Bewohner, die den Absprung geschafft haben und heute als trocken gelten. Vorausgegangen war allerdings eine jahrelange Odyssee.

Zunächst erlernte Frank N. auf Anraten seiner Herkunftsfamilie einen Beruf, der ihm aber weder Erfüllung noch Freude brachte. Dies habe in ihm ein Gefühl der Fremdbestimmtheit ausgelöst, das ihn dazu führte, sich immer öfter nach Feierabend mit Alkohol zu betäuben, erinnert sich Rainer Benner. "Seine Frau und seine Kinder haben das bemerkt und jahrelang erfolglos versucht, ihm sein Alkoholproblem zu verdeutlichen". Eine Therapie begann er erst, als die mittlerweile erwachsenen Kinder Frank N. mit einem endgültigen Kontaktabbruch auch zu seinen Enkeln drohten.

Der physische und psychische Entzug gelang dem Mann. Damit ist er einer von im Durchschnitt etwa zehn Prozent, die den Absprung vom Alkohol schaffen und wieder in ein geregeltes Leben zurückfinden. Das ist oberstes Ziel im Haus Martinsruh: Die Alkoholabhängigen sollen nach ihrer Entlassung wieder ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben führen können, sagt Benner.

Um diesem Ziel näher zu kommen, bietet die Einrichtung ihren Klienten Beschäftigungsmöglichkeiten an, in die sie zunächst eingearbeitet werden. Auf dem weitläufigen Gelände des Hauses befindet sich ein Hühnergehege mit über 20 Hennen, ein großer Gemüsegarten mit einem Treibhaus und ein selbst angelegtes Biotop mit einem Gartenteich - ein Areal also, das dem kreativen Naturliebhaber kaum Grenzen setzt. Die Anlage wurde von ehemaligen Bewohnern angelegt und wird bis heute liebevoll gepflegt und kontinuierlich ausgebaut.

Haus Martinsruh
Haus Martinsruh in der Fränkischen Schweiz

In einer großen hauseigenen Werkstatt werden auch für externe Unternehmen Kleinbauteile, Spielzeugwaren und anderes produziert. Das zu einem selbstbestimmten Leben wesentliche hauswirtschaftliche Know-how eignen sich die Klienten in der Großküche der Einrichtung und in der hauswirtschaftlichen Abteilung an.

Benner betont jedoch, Haus Martinsruh sei keine geschlossene Einrichtung, sondern für die Klienten nach außen immer offen. Nach einer Zeit der Eingewöhnung und des begleiteten Ausgangs dürfe jeder die Einrichtung verlassen und sich selbstständig mit Bus oder Bahn bewegen. Ob zum Einkaufen, zum Gottesdienst oder zur Arbeit: "Manche finden sogar einen Praktikumsplatz in Handwerksbetrieben oder Firmen in der Nähe."

Sorge bereitet Einrichtungsleiter Benner aber die veränderte Altersstruktur der Klienten: "Früher war der durchschnittliche Suchtkranke hier im Haus etwa Ende 40 bis Anfang 50. Heute fragen bereits Menschen im Alter von Anfang 30 nach einem Platz." Dies sei auf einen immer früheren und exzessiveren Konsum von Alkohol zurückzuführen. "Alkohol zu konsumieren wird in unserer Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern gehört mittlerweile bei vielen gesellschaftlichen Ereignissen zum guten Ton und wird darüber hinaus als Problemlöser angesehen," sagt Benner.