Was bisher als Form von Höflichkeit gegolten hat, ist heute fast schon zu einem Akt der Zumutung geworden: Händeschütteln zum Beispiel oder jemandem in die Jacke helfen. In Zeiten von Corona heißt die Devise: Körperkontakt vermeiden und niemandem zu nahe kommen. Auch im Berufsalltag hat sich einiges geändert: Die Büros sind verwaist, die Menschen arbeiten jetzt vor allem im Homeoffice. Die Münchner Knigge-Trainerin Petra Marzin erzählt im Gespräch, was uns womöglich als Corona-Relikt erhalten bleiben wird - und ob das Händeschütteln für immer ausgedient hat.

Kein Händeschütteln und 1,5 Meter Abstand in Zeiten von Corona - muss der Knigge neu geschrieben werden?

Petra Marzin: Nein. Denn vieles, was jetzt angesagt ist, hat schon immer zum guten Ton gehört, zum Beispiel eine gewisse Distanz zum Gegenüber. Jeder Mensch hat ja seine Intimsphäre, die nicht überschritten werden sollte. Wo die eigene Intimsphäre anfängt, merkt man, wenn ein anderer zu nahe kommt. Da fühlt man sich sofort unwohl. Auch das Niesen oder Husten in die Armbeuge oder das Händewaschen sind ja eigentlich nichts Neues. Vieles, was im Knigge steht, hat bisher als aufgesetzt gegolten. Aber es hat seinen Sinn, und der wird jetzt in der Corona-Krise natürlich deutlich sichtbar.

Viele halten Knigge in der Tat für aufgesetzt - wie wird das Besteck auf dem Tisch richtig angeordnet, wie isst man seinen Hummer richtig,...

Marzin:

Knigges Grundgedanken sind vielschichtig, aber zeitlos und beziehen sich auf den Umgang miteinander und unsere innere Haltung: Rücksichtnahme, Wertschätzung, dem anderen auf Augenhöhe begegnen.

Übrigens auch der Umgang mit sich selbst - wir sind es ja überhaupt nicht mehr gewohnt, mit uns allein zu sein. Dessen werden sich jetzt viele Menschen wegen der Ausgangsbeschränkungen wieder bewusst. Knigge ist ein wenig wie die Bibel - man muss ihn für die jeweilige Zeit neu "interpretieren". Uns geht es doch nicht darum, den Leuten in erster Linie beizubringen, wie man richtig einen Hummer isst. Auch wenn das viele meinen...

Glauben Sie, dass uns einige Corona-Umgangsformen erhalten bleiben werden?

Marzin: Einiges wird sich hoffentlich halten. Vieles wird aber auch wieder verschwinden. Um den Körperkontakt zu vermeiden, begrüßen sich jetzt einige mit den Füßen, winken, lächeln sich an oder verbeugen sich wie die Japaner. Das wird sich aber nicht durchsetzen, weil es einfach nicht zu unserer Kultur gehört. Das Händeschütteln wird auf alle Fälle wiederkommen.

Genauso wenig glaube ich, dass sich das Tragen von Schutzmasken halten wird. Im asiatischen Raum ist das ja seit langem verbreitet, um sich vor der Luftverschmutzung zu schützen oder um andere nicht anzustecken, wenn man krank ist. Natürlich ist das sinnvoll - aber wenn die Hälfte des Gesichtes bedeckt ist, ist die Kommunikation einfach eingeschränkt. Im Sommer schwitzt man unter der Maske. Ich persönlich möchte sie nicht dauernd aufhaben.

Also bleibt alles beim Alten?

Marzin: Nein, hoffentlich nicht! Ich hoffe sehr, dass die Rücksichtnahme und Solidarität mit den Mitmenschen bleiben wird. Bisher waren wir ja sehr auf uns selbst bezogen. Sich um den anderen sorgen und kümmern, wie es jetzt zum Beispiel unter Nachbarn passiert, wenn die Jüngeren für die Älteren einkaufen. Oder einfach mal anrufen und fragen, wie es dem anderen geht.

Aber nicht dieses schnell dahingesagte "Wie geht's dir?", sondern ein aufrichtiges, ernsthaftes. Und wer krank ist, sollte zu Hause bleiben - entweder um sich auszukurieren oder um aus dem Homeoffice zu arbeiten - und nicht im Büro oder in der S-Bahn andere anstecken. In Sachen Homeoffice lernen die Unternehmen ja coronabedingt gerade sehr viel dazu.

Diese "neue" Solidarität zeigt sich auch in den Dankesbekundungen für Pflegekräfte, Ärzte, Supermarktpersonal oder Lkw-Fahrer...

Marzin: Danke sagen ist eine nette Geste. Aber sie muss ehrlich sein, die Haltung dahinter muss stimmen. Wo wir also wieder bei der Begegnung auf Augenhöhe wären. In so einer Krisenzeit wird uns bewusst, was andere eigentlich für uns leisten. Jeder ist ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Es wäre schön, wenn wir einen Hauch davon in die Zeit nach Corona mitnehmen und auch über eine bessere Bezahlung von Pflegekräften und Kassierern nachdenken.

Was wir auch noch für die Zukunft mitnehmen können: Durch den fehlenden Autoverkehr und die ausgefallenen Flüge kann sich die Umwelt derzeit erholen. Wir sollten schon überlegen, ob unsere ganzen Reisen und Dienstfahrten, die wir so unternehmen, unbedingt notwendig sind. Die Corona-Krise ist trotz aller schmerzlichen Einschnitte auch ein Lernprozess für die Gesellschaft.

Sie haben das Homeoffice angesprochen, das bisher eher die Ausnahme war, coronabedingt aber nun die Regel. Gibt es neue Umgangsformen zu beachten?

Marzin: Viele Chefs denken nun vielleicht, dass sie die Kontrolle über ihre Mitarbeiter verlieren und sind versucht, ihre Mitarbeiter zu Hause mit Videoanrufen zu kontrollieren. Davon rate ich aber ab. Da gelten die gleichen Regeln wie bei Meetings. Da sollten sich beide Seiten gut vorbereiten können - sich vielleicht was bürotaugliches anziehen und sich vor einen neutralen Hintergrund setzen. Es wird hier ja in die Privatsphäre eingedrungen. Chefs und Teams sollte da am besten eine Vereinbarung treffen.

Und wenn im Hintergrund ein Kind schreit...

Marzin: Das macht uns doch nur menschlich. Wenn ein Kind im Hintergrund herumspringt, dann stört das ja erst mal niemanden. Wenn es zu laut ist, dann kann man einfach mal die Stumm-Taste drücken bei Videokonferenzen. Familie und Arbeit rücken jetzt einfach näher zusammen, der Balanceakt zwischen Arbeit und Beruf, den vor allem die Frauen leisten, wird jetzt für alle sichtbar. Und ansonsten rate ich allen, wenn es mal nicht zu 100 Prozent nach Knigge läuft: Bleibt souverän und charmant und sagt offen, dass ihr gerade im Homeoffice mit Kind seid. Dafür hat doch jeder Verständnis.