Neben Rosemarie Oßners Sessel steht ein Rollator. Dreimal ist sie in letzter Zeit gestürzt. Es ist immer der Schwindel, der sie das Gleichgewicht verlieren lässt. Trien Di Tran hockt sich neben sie und nimmt vorsichtig die Hand der alten Frau. "Frau Oßner, wie geht es Ihnen heute?", fragt er die 88-Jährige und lächelt breit. Geschickt verwickelt er sie ins Gespräch. Die Frau steigt ins Geplänkel ein und vergisst die Anspannung. Trien führt sie zum Sofa. Wenn er da ist, braucht Rosemarie Oßner keinen Rollator. Ihre Hand lässt der vietnamesische Pfleger die ganze Zeit nicht los.

Berührungsängste? Sollte Tran, der 2013 Ho Chi Minh-City den Rücken gekehrt hat, je die Scheu seiner Landsleute gegenüber Fremden besessen haben, ist heute davon nichts mehr zu spüren. Souverän und herzlich kümmert sich der 27-Jährige um Rosemarie Oßner und die anderen Bewohner von Station 2 des Evangelischen Pflegezentrums Eichenau im Landkreis Fürstenfeldbruck.

Als stellvertretender Stationsleiter, der er seit Januar ist, braucht Trien beide Eigenschaften. Immerhin ist er noch sehr jung, viel jünger als viele Kollegen. Kompetenzzweifel kommen da schon mal auf – auf beiden Seiten. "Aber es wird besser, ich gewöhne mich an die Rolle", sagt er. Am Migrationshintergrund liege es jedenfalls nie, nur am geringen Alter.

"Mein Deutsch haben mir die alten Leute beigebracht"

Dirk Spohd hört aufmerksam zu. Für den Heimleiter und Prokuristen der Hilfe im Alter ist das alles "eine ungeheuer spannende Angelegenheit". Nur zu gut kann er sich an den Tag vor vier Jahren erinnern, als er stellvertretend für alle teilnehmenden Häuser der Inneren Mission 25 neue Mitarbeiter aus Vietnam in seiner Einrichtung begrüßte und zum Essen einlud. "Aber niemand hat zu essen begonnen. Ich wusste gar nicht, was los war. Bis mir die Dolmetscherin erklärte, dass niemand anfangen würde, bevor ich nicht irgendwo hineingebissen hätte."

Neben sprachlichen Barrieren sind es die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und dem sozialistisch regierten Vietnam, die die Heime durch intensive Integrationsarbeit wettmachen müssen. Geleistet wird die von den Neuankömmlingen, den Vorgesetzten, in besonderem Maße vom Kollegium – und natürlich von den Heimbewohnern. "Mein Deutsch haben mir die alten Leute beigebracht", sagt Trien. Insgesamt sieben Einrichtungen der Inneren Mission beteiligten sich 2013 an dem Projekt "Ausbildung von Arbeitskräften aus Vietnam zu Pflegefachkräften", das die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums aufgelegt hatte. "Damals hat es einen eigenen ›kultur-kompetenten Mitarbeiter‹ gegeben, den wir immer mal wieder zurate gezogen haben", erinnert sich Spohd.

Pflegeleiterin Brenner mit internationalem Team.
Eichenauer Team (v. l.): Trien Di Tran, Zhigang Qiu, Pflegeleiterin Susanne Brenner, Aida Tadic und Neira Lekovic. Die beiden jungen Bosnierinnen sind über persönliche Kontakte zur Hilfe im Alter gekommen.

Die angespannte Fachkräftesituation versucht die Hilfe im Alter (HiA) seit Jahren zu entschärfen: So bildet sie jedes Jahr in ihrer eigenen Fachschule 30 Pflegekräfte aus. Migrationshintergrund bei den Schülern dort: ebenfalls steigend. Die Integration von Mitarbeitenden, die bereits im Ausland eine Ausbildung zum Kranken- oder Altenpfleger absolviert haben, ist ein zweiter Mosaikstein, um den Arbeitskräftemangel zu beheben. 2016 kamen von den 873 Altenpflegekräften der Hilfe im Alter 58 aus Bosnien; nach Deutschen und Kroaten die drittgrößte Gruppe, gefolgt von den Vietnamesen mit 29 Mitarbeitenden.

"Sehr belastbar, wissbegierig und fleißig"

Die Entwicklung von Trien Di Tran ist der Idealfall. Mit rudimentären Deutschkenntnissen, einem vierjährigen Krankenpflege-Studium und großer Neugier ausgestattet war er aus Ho Chi Minh ins beschauliche Eichenau gekommen. Mit im Gepäck: eine Portion Heimweh, das nur langsam schwächer wurde. Nach intensiven, pflegespezifischen Deutschkursen und einer auf zwei Jahre verkürzten Ausbildung zum Altenpfleger wurde er als Pflegefachkraft eingestellt. Vorher liefen er und seine drei vietnamesischen Kolleginnen als Schüler im Eichenauer Stellenplan mit. Ende 2016 dann das Angebot, stellvertretender Wohnbereichsleiter zu werden. Fortbildung, Abschlussprüfung, Führungskraft.

"Ich hab mich schon gefragt, wie er das hinkriegt", räumt Dirk Spohd ein. "In Vietnam ist das Wort des Chefs Gesetz. Das läuft hier in Deutschland ja ein wenig anders", sagt er. Doch mit angeborener Höflichkeit und Respekt entwaffnet Trien seine Kritiker. Und die Deutschen im Team wissen: Ähnlich gute und vor allem fleißige Kollegen sind auf dem leer gefegten Arbeitsmarkt kaum zu kriegen.

Pflegeleiterin Susanne Brenner bestätigt das: "Die vietnamesischen und chinesischen jungen Leute sind sehr belastbar, wissbegierig und fleißig. Sie jammern nicht und sind fast nie krank." Da müsse man schon gut darauf achten, dass ihr großes Engagement nicht ausgenutzt werde.

Ähnliche Ausbildung - unterschiedliche Pflegepraxis

Zhigang Qiu ist 23 und erst Anfang Juni nach Eichenau gekommen. Der Chinese ist eine Frohnatur und spielt mit der deutschen Sprache. "Ja, natüüüürlich. Unbediiiingt!", antwortet er gern, bevor er hoch konzentriert eine ausführlichere Antwort formuliert. Die chinesische Intonation und Aussprache erschweren das Verständnis zwar; aber eins wird klar: Zhigang liebt Deutschland, Heimweh hat er nicht, und die Altenpflege ist genau sein Ding.

Insgesamt 18 chinesische Kräfte haben Anfang Juni in verschiedenen Heimen der Hilfe im Alter begonnen. Dieses Projekt läuft ohne Unterstützung aus Berlin. "Wir haben ja bereits interkulturelle Kompetenzen erworben", sagt Spohd. Und doch sind die Chinesen wieder ganz anders als die Vietnamesen: "Sie haben zum Beispiel kein Problem, jemanden in den Arm zu nehmen – egal, ob das ein Bewohner ist oder eine Vorgesetzte."

In China gibt es im Gegensatz zu allen anderen Ländern eine Altenpflegeausbildung, die analog zum deutschen Lehrplan abläuft. Doch während in Deutschland die Mobilität der Menschen bis zuletzt erhalten werden soll, wird in China sehr viel im Bett gepflegt. Deshalb lernen die chinesischen Mitarbeiter bei der Hilfe im Alter, worauf es in der deutschen Altenpflege ankommt – Dokumentation inklusive. Nach sechs bis zehn Monate werden sie als Fachkräfte anerkannt. "Ab wann die ›Neuen‹ als Fachkräfte eingesetzt werden können, entscheidet die Einrichtung", erklärt Susanne Brenner. 

Ob alle so weit kommen, kann Spohd nicht vorhersagen. "Nicht alle sind der Verantwortung gewachsen, selbst wenn sie die Prüfung bestanden und ein gutes Sprachniveau erreicht haben." Dies sei aber eine Frage der Persönlichkeit, nicht der Herkunft.

Fachwissen für die Heimat

Wie geht es langfristig weiter? Zhigang Qiu und Trien Di Tran können sich vorstellen, irgendwann zurückzugehen und ihr Fachwissen, das sie in Deutschland erworben haben, in der Heimat anzuwenden. "Wie lange wir jemanden hier halten können, kann man vorher nie wissen", erklärt Susanne Brenner pragmatisch. Wichtig sei, für die nächsten Jahre die Fachkraftquote zu sichern.

Und wie geht es den betagten Bewohnern damit, dass sie Menschen pflegen, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist, die fremd aussehen und aus einem ganz anderen Kulturkreis stammen? Erstaunlich gut, meint Dirk Spohd. "Es kann zwar schon einmal Ressentiments geben. Dann suchen wir das Gespräch. Und in der Regel lässt sich das Problem schnell lösen."

Für Rosemarie Oßner sind die Pflegekräfte aus Asien jedenfalls ein Glücksfall. Hinter ihrem Sessel im Regal steht der "Große Atlas der Welt". Ihr Leben lang ist die Passauerin gereist: Europa. Afrika. Asien hat sie nicht geschafft. Heute, ganz am Ende ihres Lebens, ist der fremde Kontinent sozusagen zu ihr ins Zimmer gekommen. "Ich akzeptiere alle Menschen, ganz gleich, woher sie kommen", sagt Rosemarie Oßner. "Aber Tran bewundere ich. Er kommt aus einem geschundenen Land. Von so weit weg. Und ist doch immer freundlich und beflissen." Etwas, was die 88-Jährige bei jungen Leuten aus dem eigenen Land hin und wieder vermisst.

Ausländische Pflegekräfte in München

BEI DER HILFE IM ALTER der Inneren Mission München arbeiten derzeit 29 Pflegekräfte aus Vietnam, 18 aus China und 18 von den Philippinen. Voraussetzungen sind Deutschkenntnisse auf dem Fortgeschrittenen-Level B2 sowie eine Pflege­ausbildung, die in Deutschland anerkennungsfähig ist. Heim­interne Ausbildung und Fachsprachkurse sollen die Mitarbeiter fit machen für den deutschen Pflegealltag.

AUCH ANDERE TRÄGER wie die Caritas ergänzen ihre Teams mit Fachkräften von den Philippinen, aus Serbien, Bosnien und Tunesien. Im Caritasverband München-Freising arbeiten derzeit 37 ausländische Fachkräfte, die über das Kooperationsprojekt "Triple Win" der Bundesagentur für Arbeit und der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GiZ) nach Bayern gekommen sind.