An einem guten Tag kann man hinaufgehen in die Favelas von Pavão-Pavãozinho und Cantagalo im Süden von Rio de Janeiro. An einem guten Tag läuft man vorsichtig zwar, aber nicht besorgt die Gassen entlang, die Treppen herauf und herunter, sieht Jugendliche mit und ohne Drogentütchen, mit und ohne Waffe, die meisten ohne. Man sieht eine Schwangere die raucht und eine alte Frau mit einer Katze vor ihrer Hütte sitzen.

Man kann, an einem guten Tag, ein kühles Bier in einem der kleinen Läden bestellen und den Geschichten des Ladenbesitzers zuhören über einen international erfolgreichen Boxer, der aus dieser Favela stammt. Man sieht Polizisten den Hügel herauffahren, sie halten Maschinengewehre aus den Fenstern. An einem schlechten Tag schießen sie. Oder holen die ab, die von verfeindeten Drogengangs erschossen wurden. An einem sehr schlechten Tag kann einen eine der balas perdidas treffen, eine Kugel, die danebenging.

»Jesus war auch Anarchist«

Am besten geht man auch an einem guten Tag nicht ohne Begleitung, die sich auskennt. Und kaum einer kennt sich besser aus als Mozart Noronha, Pfarrer, Anarchist, Philosophieprofessor und Poet. Mozart hat selbst lange in der Favela gelebt, weil er das so wollte, er hat viele aus der Favela beerdigt. Als es einmal stark regnete und eine Baracke nach der anderen zusammenbrach, da rettete er Verschüttete und half aufbauen, so erzählt er das. 30 Menschen seien damals gestorben.

Mozart Noronha ist 72, er trägt eine schwarze Baskenmütze und einen langen grauen Bart. »Jesus war auch Anarchist«, ist er überzeugt, »er war ja gegen die Römer und gegen die Staatsreligion.« In der Favela kennen ihn alle. Padre, nennen sie ihn, oder Weihnachtsmann, Rabbi oder Bin Laden. Was das genau für eine Kirche ist, unten in Ipanema, in der Mozart fast 30 Jahre lang gepredigt hat, wissen viele nicht. Die meisten hier gehören einer der vielen Pfingstkirchen an, einige sind katholisch.

Mozart Noronha, der aktuelle Gemeindepfarrer José Kawalska und die Leiterin des Kindergartens Vilma Petsch

Mozart Noronha ist Lutheraner, seine Gemeinde kennen die Bewohner von Pavão-Pavãozinho und Cantagalo vor allem über den Kindergarten, in den 100 Söhne und Töchter der Favela gehen. Eine Frau hält Mozart an: »Meine Kinder haben den Abschluss geschafft, alle drei. Das wollte ich dir sagen, Pastor.« Mozart gratuliert, geht weiter. »Meine Hütte ist eingestürzt, Pastor«, sagt eine andere, sie kann ihm nicht die Hand geben, weil sie schmutzig ist vom Dosensammeln. »Und alle vier Söhne sitzen im Gefängnis. Meine Enkelin und ich schlafen jetzt im Garten der katholischen Kirche. Ich brauche so dringend einen Herd.« »Ich glaube, ich kenne jemanden, der einen über hat«, sagt Mozart.

30.000 Menschen leben in engen Hütten auf den Hügeln von Pavão-Pavãozinho und Cantagalo. Die meisten sind Nachkommen von Sklaven. Anders als in den USA bekamen die Sklaven Brasiliens nach der Befreiung kein Land, keinen Schutz und kaum Rechte. Sie ließen sich aus Not in den unwirtlichsten Gegenden nieder, in Rio sind das die Hügel. »Den Sklaven ging es nach ihrer Befreiung schlimmer als zuvor«, sagt Mozart, »davor waren sie eine Ware, eine möglicher Gewinn, sie mussten stark sein.« Danach kümmerte sich keiner darum, ob sie zu essen hatten oder nicht. Denen, die lebend aus dem Krieg gegen Paraguay zurückkamen, wurde Freiheit und Land versprochen, aber nie gegeben.

Stadt der Gegensätze

1.250 Favelas gibt es allein in Rio. Außer den Nachkommen der afrikanischen Sklaven leben viele aus dem Nordosten Brasiliens in den Favelas, sie kommen in die Stadt, um Arbeit zu finden. Um schnelles Geld zu machen und dann nach Hause zurückzukehren. »Wenn es im Nordosten wieder besser läuft, gehen sie«, sagt Mozart, »dann, wenn dort Dürre herrscht, kommen sie zurück nach Rio.«

Favela und Asphalt – so nennen die Einwohner Rios die Gegensätze ihrer Stadt. Zu weit nach oben auf den Hügel darf man sich auch an guten Tagen nicht wagen. Unten, »auf dem Asphalt« trifft man sofort, der flache Boden markiert den Übergang, auf Boutiquen und Hotels, nur ein paar Minuten sind es zu Fuß zum berühmten Strand von Ipanema. Die Beziehung zwischen Favela und Asphalt ist die der Bedienung – die Favelabewohner kommen tagsüber herunter, arbeiten als Pförtner, Hausangestellte, Kellnerinnen, Müllsammler und Kassiererinnen. Abends verschwinden sie wieder auf den Hügeln. Nur ein paar bleiben, die Prostituierten.

Eine Erzieherin und die Kinder beim Mittagsschlaf

100 Kinder aus der Favela verbringen ihre Tage auf dem Asphalt von Ipanema, gleich gegenüber ist das ehemalige Haus von Tom Jobim, der die Musik zum Bossa-Nova-Klassiker »The Girl from Ipanema« geschrieben hat. Im Kindergarten der lutherischen Gemeinde werden die Kinder geduscht, sie machen Musik, spielen, essen. »Viele kriegen zuhause nur Cola und Süßigkeiten, das Essen hier ist unser größtes Problem«, sagt Vilma Petsch, die Leiterin des Kindergartens. »Gestern mussten wir einen Psychologen holen, weil ein Kind einfach nur schreiend und weinend vor seinem Teller saß.« Außerdem arbeiten Erzieherinnen und Erzieher an sozialen Kompetenzen: Teilen, Warten, Kommunizieren.

Und einmal die Woche gibt es ein Treffen für die Mütter. »Viele Mütter erzählen von Abtreibungsversuchen mit Stricknadeln oder Flaschen, von häuslicher Gewalt, von Männern, die im Gefängnis sitzen«, sagt Vilma in ihrem Büro. Sie arbeitet seit knapp 30 Jahren hier und ist eine enge Freundin von Mozart. Manchen Mütter haben außerdem Angst vor dem Gefängnis, erzählt Vilma weiter, weil Schwangerschaftsabbrüche in Brasilien verboten sind. »Naja, und dann gibt es noch dort oben auch noch Krankheiten: Tuberkulose, Denguefieber, Gelbfieber, sogar Lepra.«

»Wenn wir keine Schulen bauen, werden wir Gefängnisse bauen müssen.«

Nach dem Mittagessen im Kindergarten: Mittagsschlaf. Die Kinder legen sich auf pastellgelbe Minimatratzen, manche bleiben wach, keines liegt da wie das andere - es dürfte kaum ein friedlicheres Bild geben. »Nur etwa 10 Prozent der Kinder, die hier waren, landen danach im Drogengeschäft«, sagt Mozart Noronha, eine Schätzung.

Auch der Kindergarten leidet unter der aktuellen Krise. Er lebt von Spenden und einer Partnerschaft mit einer Gemeinde in Schweinfurt. »Die Brasilianer geben immer weniger. Die Mittelschicht steht unter Druck, man gibt lieber dem arbeitslosen Bruder als uns. Und die Elite hat sich noch nie für unsere Arbeit interessiert«, sagt Vilma Petsch.

Die aktuelle Regierung will die Gelder für Bildung und Gesundheit für die nächsten 20 Jahre einfrieren. Das lässt Vilma an einen Spruch des brasilianischen Politikers und Schriftstellers Darcy Ribeiro denken: »Wenn wir keine Schulen bauen, werden wir Gefängnisse bauen müssen.« Vilma Petsch und Mozart Noronha sagen das, was so viele hier sagen: »Es geht rückwärts, alles Errungene wird wieder zunichte gemacht.« Und die guten Tage in der Favela werden seltener.