Als Sinn- und Wertecoach haben Sie beruflich mit den Krisen anderer zu tun. Durch die Krebserkrankung Ihres Mannes und seinen Tod im März 2015 haben Sie selbst eine Krise erlebt, mit durchwachten Nächten, großen Ängsten und einem Beinahe-Burn-out. Welche Strategie hat Ihnen selbst geholfen?

Dietl: Eigentlich kann ich ganz gut mit meinen Kräften haushalten, aber damals bin ich an meine Grenzen gekommen. Dass nichts mehr geht, war für mich neu. Also brauchte ich einen neuen Ansatz, und der hieß: Loslassen. Nicht mehr sagen: Ich schaff das schon. Sondern mir eingestehen, dass ich es nicht mehr schaffe. Dass ich Ruhe brauche. Dass es richtig ist, diese vermeintliche Schwäche zuzulassen und ihr nachzugeben. Das war ein schmerzhafter Prozess. Denn als doch sehr starker, disziplinierter und zum Perfektionismus neigender Mensch kann ich mich sonst ganz gut zusammenreißen. Aber damals war ich an einem Punkt, wo das nicht mehr ging.

Was hat Ihnen dabei Kraft gegeben?

Dietl: Das Loslassen selbst hat mir Kraft gegeben. Es war für mich ein großer Schritt, mich vor den Spiegel zu stellen und zu sagen: Ja, du bist überfordert. Aber in dem Moment, wo mir das gelungen ist, hat mich das plötzlich gestärkt. Das Eingestehen von Schwäche hat mich am Ende stark gemacht. Wenn ich mir das nicht eingestanden hätte, wäre ich am Ende richtig zusammengebrochen.

Wie ist es dann weitergegangen?

Dietl: Ich habe mich sehr bewusst und ganz radikal auf das absolut Wesentliche beschränkt: auf meinen Mann und auf meine Gesundheit. Ich habe mich in die Ruhe gebracht, mich erholt, entspannt. Das hat mir in der ersten Phase gut geholfen, und so habe ich die Sterbebegleitung für meinen Mann noch bewältigt. Nach seinem Tod hatte ich dann den starken Impuls, mein Buch zu schreiben. Das hat mir bei der Verarbeitung geholfen. Ich habe das Schreiben dabei als neue Ressource entdeckt. Als Journalistin bin ich mit dem Schreiben ja vertraut. Ich wusste bis dahin aber gar nicht, dass es mir auch als Bewältigungsstrategie helfen kann.

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#Glaubensfrage

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Wenn man Ihr Buch liest, bekommt man den Eindruck, dass Sie sehr analytisch und diszipliniert mit Problemen umgehen.

Dietl: Ich bin froh, dass ich vom lieben Gott meinen Verstand mitgekriegt habe. Er ist eine Instanz, die es mir erlaubt, über mich selbst hinauszuwachsen. Von Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie, gibt es einen Satz, den ich sehr mag: »Ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen.« Den Gefühlen immer so viel Raum zu geben, sich überspitzt gesagt hineinzusteigern, das bringt uns in Krisensituationen nicht weiter. Beim Umgang mit Gefühlen hilft der Kopf. Ich stelle fest: Ja, ich habe eine Emotion, ich habe Angst, bin wütend oder traurig und finde das Schicksal ungerecht. Dann kann ich mir die Gefühle anschauen und überlegen, was ich damit mache. Da gibt es drei Möglichkeiten: hineinsteigern, daran leiden und alles ganz schrecklich finden. Oder die Gefühle unterdrücken und so tun, als wäre gar nichts. Oder ich nehme die Gefühle wahr, wie sie sind, und überlege, was ich damit mache.

Können denn viele Menschen so bewusst mit ihren Gefühlen umgehen?

Dietl: Wenn man es will, kann man das lernen. Ich habe es aber oft erlebt, dass die Menschen das gar nicht wollen, weil sie sich eigentlich in ihrem Leid und in ihrer Opferrolle ganz wohlfühlen. Obwohl das wehtut, ist es auch sehr bequem, denn sie brauchen keine Verantwortung zu übernehmen. Es sind dann immer die anderen oder die Umstände, die dafür verantwortlich sind, dass sie sich so verhalten, wie sie es tun. Das ist in gewisser Weise ein kindisches Verhalten. Verantwortung übernehmen kann man auch für sein seelisches Befinden. Und dann habe ich plötzlich eine Option! Traurigkeit ist ja erst mal ein Gefühl. Bei mir ist sie auch eineinhalb Jahre nach dem Tod meines Mannes noch da. Aber die Option, was ich mit diesem Gefühl mache, steht mir frei. Überwältigt mich die Trauer? Leide ich daran? Zerfließe ich jetzt wieder in Tränen? Das kann ich selbst entscheiden. Dafür habe ich die wunderbare Instanz meines Geistes, der mehr ist als der Verstand. Bei Frankl ist das der Logos, der Geist, eine Mischung aus Seele, Kopf und Verstand. Es ist eine Haltung zum Leben und zur Welt.

Sie haben 2015 nicht nur Ihren Mann verloren, sondern kurz davor auch Ihre Mutter. Wo stehen Sie gerade mit Ihrer Trauer?

Dietl: Ich würde sagen, ich bin wieder etwas lebensmutiger und leichter. Man weiß ja vorher gar nicht, was nach dem Tod eines Angehörigen alles auf einen zukommt. Ich musste mein Leben ohne Mann formal neu einrichten und den Nachlass ordnen. Das hab ich jetzt fast alles geklärt. Jetzt habe ich das Gefühl, dass es gut ist, ihn jetzt auch wirklich loszulassen. Das Paradoxe ist ja, dass das Vergangene nicht weg ist, sondern Teil meines Lebens bleibt. Mit diesem Geschenk der 15 gemeinsamen Jahre möchte ich nach vorne schauen.

Haben Sie für den Umgang mit den Erinnerungen Rituale oder feste Zeiten?

Dietl: Der einzige symbolische Akt war, dass ich mir einen Ring aus unseren Eheringen und noch anderem Schmuck, den mein Mann mir geschenkt hat, habe machen lassen, weil ich ihn ganz bei mir haben wollte. Das war mir ein Bedürfnis. Ansonsten gehe ich einmal pro Woche ans Grab, aber mehr für meine Tochter, die das sehr beruhigt. Ich selber brauche das nicht so. Meine Strategie ist, die Empfindungen, die ich im Zusammenhang mit meinem Mann habe, so anzunehmen, wie sie kommen. Da kann es passieren, dass mich zum Beispiel beim Lesen eines Zeitungsartikels über ihn die Trauer überfällt und ich einfach anfange zu weinen. Dann weine ich und bin traurig, und dann geht es auch wieder weg. Das ist nicht steuerbar. Genauso nehme ich es an, wenn es mir seelisch mal richtig gut geht und ich merke, dass es leichter wird.

Gab es einen Wendepunkt, an dem Sie gemerkt haben, dass Sie wieder nach vorn schauen können?

Dietl: Nein, das ist ein Prozess, wie alles im Leben. Plötzlich wachst du morgens auf und denkst: Jetzt fühl ich mich anders. Aber das ist kein Wendepunkt. Denn schon am nächsten Morgen kann es passieren, dass es wieder nicht mehr so leicht ist. Das ist die Achterbahn des Lebens, nicht nur die Achterbahn in der Krise. Ich empfehle, das Leben als Prozess des Wachsens und Werdens zu betrachten. »Leben heißt, sich darauf einzulassen, jeden Tag neu geboren zu werden.« Das muss man wollen und aushalten. Das Trauerjahr, das es in allen großen Religionen gibt, hat sicher seinen Sinn. Die Seele wird ruhiger, wenn die Jahrestage, die man das erste Mal ohne den geliebten Menschen erlebt, vorbei sind. Das heißt aber nicht, dass nach dem Trauerjahr die Traurigkeit weg ist. Es gibt Tage, da geht es wunderbar und ich empfinde eine große Leichtigkeit. Und es gibt Tage, an denen ich sehr traurig bin.

Sie haben drei Jahre lang mit Krankheit, Sterben und Tod zu tun gehabt. Hat Sie das persönlich verändert?

Dietl: Es hat mich müde gemacht. Ich merke, dass ich immer noch nicht so fit bin wie vor drei Jahren. Aber auch in diesem Punkt habe ich mir gesagt: Das dauert halt länger. Mein Mann hatte ja vor zehn Jahren schon einen Schlaganfall, dann der Krebs und dazu noch die kranke Mutter - ich habe ganz schön viel schwierige Situationen in den letzten zehn Jahren gehabt und merke, dass ich da noch ein bisschen länger brauche mit der Regeneration. Darüber hinaus ist mir noch viel intensiver klar, was ich brauche und was ich nicht mehr brauche. Viele Dinge, über die andere Menschen sich aufregen, interessieren mich nicht mehr. Viele Probleme sind bloß Befindlichkeiten, das hat viel mit dem Ego zu tun. Dem entziehe ich mich, weil ich weiß, wie wertvoll mein Leben ist. Das Gespür dafür hat sich intensiviert.

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