Renate Kerscher war gerade eingeschult, als ihre Eltern erfuhren: "Ihr Kind sieht extrem schlecht." Das war Mitte der 1970er Jahre. Ein weiterer Grundschulbesuch war nicht mehr möglich. "Meine Eltern suchten überall nach einem Platz für mich und stießen auf das Blindeninstitut in Würzburg", erzählt die heute 48-Jährige. Lange lebte Renate Kerscher im "Blindi" in einer Wohngruppe. Was oft schön war. Aber auch gravierende Nachteile hatte: "Man war nie für sich." Das war vor allen Dingen in den ersten Jahren belastend:

"In der Anfangszeit hatte ich nicht einmal ein Zimmer für mich allein."

Im Jahr 2001 ergab es sich, dass Kerscher mit drei anderen sehbehinderten Menschen in eine Wohngemeinschaft ziehen konnte. Das bedeutete schon mehr Freiheit. Sieben Jahre ging die Sache gut: "Doch irgendwann reichte es mir, dass ich, weil ich die Fitteste von uns vieren war, so viel tun musste." An Kerscher hing zum Beispiel der ganze "Schriftkram". Die Beschäftigte in der Bentheim Werkstatt für behinderte Menschen wollte endlich alleine wohnen. Das Blindeninstitut half ihr. Seit 2008 hat Kerscher eine eigene Wohnung.

Die 48-Jährige kommt gut alleine klar, weiß aber, dass sie immer Hilfe findet, wenn sie welche braucht. Dafür sorgt das ambulant unterstützte Wohnen. "Für größere Einkäufe brauche ich jemanden", erklärt die fast blinde Würzburgerin, deren Sehleistung mit den Jahren immer mehr abnahm. Dass sie sonst völlig autonom ist, genießt Kerscher: "Ich muss mich bei niemandem abmelden, wenn ich weggehe." Auch kann sie essen, was sie möchte. Und sollte sie am Wochenende nicht aufstehen wollen, bleibt sie im Bett liegen. Auch das ist in einer Wohngruppe nicht immer drin - die Teilnahme an Mahlzeiten ist dort erwünscht.

Dass jeder Mensch mit Behinderung so eine Chance erhält, wie Kerscher sie 2008 erhielt, dafür will das Sonderinvestitionsprogramm "Konversion von Komplexeinrichtungen der Behindertenhilfe" des Freistaats sorgen. Dieses Jahr stehen laut Sozialministerium 12,2 Millionen Euro für vier Konversionsprojekte zur Verfügung. Die Mittel fließen an zwei Projekte der Diakonie Neuendettelsau, an ein Projekt der Regens-Wagner-Stiftung Holnstein in der Oberpfalz sowie an ein Projekt des Dominikus-Ringeisen-Werks Urslberg in Schwaben

Im Rahmen der Investitionskostenförderung fördert der Freistaat laut Sozialministerium nur noch solche Projekte, die auf Inklusion achten.

Gefördert würden demnach nur noch überschaubare Einheiten mit bis zu 24 Wohnplätzen, untergliedert in Bewohnergruppen. Diese Einheiten sollen "im Zusammenhang mit dörflichen oder urbanen Strukturen entstehen", um so die Ziele der Inklusion zu erreichen, erläutert ein Sprecher. Seit 2012, als die "Eckpunkte zur Umsetzung dezentraler Wohnstrukturen für Menschen mit Behinderung" beschlossen wurden, habe man die Dezentralisierung von 450 Wohnplätzen gefördert.

Laut Johannes Spielmann, Vorstand der Blindeninstitutsstiftung in Würzburg, haben große Behindertenreinrichtungen ihren Ursprung in den 1960er Jahren. Damals begannen sich die sonderpädagogischen Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung stärker zu entwickeln: "Dadurch wurde die hohe Nachfrage sichtbar." Es habe damals eine "große Not" gegeben: "Viele sehbehinderte Kinder mit Mehrfachbehinderungen lebten ohne Schulbesuch zu Hause." Als sich die Blindeninstitutsstiftung für diese Menschen öffnete, habe es eine "explosionsartige Nachfrage" aus ganz Deutschland gegeben.

Ob es in der Ära der Inklusion noch Heime geben darf, ist eine heiß umstrittene Frage.

Sie bewegt auch das Blindeninstitut. Die Stiftung versucht, jedem Bewohner die Wohnform zu ermöglichen, die seinen Wünschen entspricht. Spielmann: "Die Initiative der Staatsregierung unterstützt die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten und ermutigt uns Einrichtungsträger." Die zur Verfügung gestellten Gelder allerdings, macht der Institutsvorstand klar, reichen für das hehre Ziele eines selbstbestimmten Wohnens mit individueller Betreuung am Tag und in der Nacht nicht aus. Hierfür bräuchte es "immense Finanzmittel": "Wir Träger können dies auf keinen Fall aus eigener Kraft schultern."

Dass Inklusion ganz oben auf der politischen Agenda des Freistaats steht, begrüßt auch Karl Schulz vom Vorstand der Rummelsberger Diakonie mit Sitz in Schwarzenbruck bei Nürnberg: "Bei der Konversion von Komplexeinrichtungen stoßen wir auf verschiedene Hindernisse." In Zeiten des Wohnungsmangels sei es schwer, neue Wohnungen zu bauen oder zu mieten. Mit den angebotenen staatlichen Fördermitteln sei der Bau dezentraler Wohnstrukturen nicht kostendeckend möglich: "Die Träger müssen massiv Eigenmittel einsetzen, was den Prozess verlangsamt und viele Projekte unmöglich macht."

Schon vor etlichen Jahren ging von den Trägern komplexer Einrichtungen der Impuls aus, individuelle Wohnmöglichkeiten für Menschen mit einer Behinderung zu schaffen. Die Rummelsberger Diakonie begann damit in den 1980er Jahren in Nordbayern. Aktuell werden im Ambulant unterstützten Wohnen 100 Klienten begleitet. "Sie wohnen in eigenen Wohnungen oder in Wohngemeinschaften", sagt Schulz. Vor vier Jahren startete dann die Konversion der sieben Komplexeinrichtungen der Rummelsberger Diakonie. Von den damals 900 Menschen, die in diesen großen Einrichtungen lebten, konnten inzwischen 380 in Wohngemeinschaften umziehen.

Wer in einer Gemeinschaft lebt, muss oft eigene Wünsche zurückstellen.

"Es wird gemeinsam gegessen, die Abende werden zusammen verbracht und Ausflüge mit der Gruppe unternommen", erläutert Schulz. Viele Bewohner wünschen sich mehr Freiheit. Doch je kleiner eine Wohngemeinschaft ist, desto teurer wird die Versorgung, weil es nicht mehr möglich ist, personelle Synergieeffekte herzustellen: "Wenn 75 Menschen statt in einem Haus in drei Wohngemeinschaften leben, verdreifacht sich allein der personelle Aufwand in der nächtlichen Versorgung." Diese Einkommenseinbußen könnten die Träger unmöglich alleine auffangen.