Karl Christian Götzger setzt die gestrickte, gestreifte Puppe mit dem Kasperlhut und den langen baumelnden Beinen auf sein Knie. Der "Wurschtel", den ihm einst die Mutter gestrickt hatte, ist das einzige Spielzeug, das dem gebürtigen Nürnberger aus seiner Kindheit geblieben ist. Nach dem verheerenden Luftangriff auf seine Heimatstadt in der Nacht zum 2. Januar 1945 hat die Familie aus einem völlig ausgebrannten Haus im Norden der Altstadt nur noch zwei Milchkännchen geborgen, erzählt er. Eines steht bei dem 83-Jährigen zu Hause, das andere Erinnerungsstück ist beim jüngeren Bruder.

Eine Million Brandbomben, geworfen aus britischen 550 Fliegern, haben in der Nacht zum 2. Januar 1945 die Altstadt von Nürnberg und weite Teile darüber hinaus dem Erdboden gleichgemacht, ist in der Dokumentation "Der Luftkrieg gegen Nürnberg" aus dem Jahr 2005 vermerkt. 15 Minuten hat der Angriff gedauert. In den Kriegstagebüchern des britischen Bomberkommandos ist zu lesen: "Ein nahezu perfektes Beispiel für Flächenbombardement". 1.800 Menschen kamen ums Leben. 3.300 wurden verwundet, 100.000 obdachlos.

Weil viele Nürnberger schon aus der Stadt geflohen waren und weil die meisten Kinder evakuiert worden waren, fallen dem Feuer und den Bomben nicht so viele Menschen zum Opfer wie anderswo. Aber die Altstadt Nürnberg existiert danach nicht mehr, ist zu 95 Prozent zerstört.

Dokumentation über den Luftkrieg

In der 800 Seiten starken Dokumentation zum Luftkrieg aus dem Jahr 2005 finden sich in den Aufsätzen Zitate aus zahlreichen Zeitzeugen-Interviews. Es berichten Menschen, von denen heute nur noch wenige leben. Sie erzählen von den Stunden und Tagen in den Luftschutzkellern und Bunkern. "Als es mit den Bomben losging, habe ich keinen Zeitbegriff mehr gehabt", sagte Hildegard W., damals zehn Jahre alt. "Das beherrschende Gefühl war Todesangst", erinnerte sich Hans W., der zwei Jahre älter war. Frauen bekamen Tobsuchtsanfälle, Kinder weinten, Männer fluchten. "Nach der Detonation atmete man wieder aus", liest man in den Berichten.

Im Dunkeln, mit dem Gefühl, dass der Bunker schwankt, sitzen die beiden Götzger-Buben mit ihrer Mutter unter dem Maxtorgraben. Seine Mutter habe sich zwischen ihn und den jüngeren Bruder gesetzt und ihnen die Arme auf die Köpfe gelegt, sagt Karl Christian Götzger. "Lieber haut es mir die Arme ab, als dass es euch die Köpf' neihaut", hört er sie auch 75 Jahre später noch sagen.

Vom Feuersturm, der wenig später durch Nürnberg rast, erfahren die Götzgers, als der Gemüsehändler aus der Nachbarschaft in den Bunker kommt. Er wirft seiner Frau einen Pelzmantel zu mit den Worten "da, das ist das Einzige, was du noch hast. Alles brennt."

Zweiter Weltkrieg: Blick auf die Stadt Nürnberg nach dem Bombenangriff 1945
Zweiter Weltkrieg: Blick auf die Stadt Nürnberg nach dem Bombenangriff.

Zweiter Weltkrieg: Zerstörung durch Bombardements

Er habe zunächst gedacht, dass das Elternhaus noch steht, erzählt Götzger. Als sie drei Tage nach dem Bombardement den Schutzraum verließen, waren es aber nur die Außenmauern des Jugendstil-Hauses in der Maxfeldstraße, die noch vorhanden waren. Darauf kein Dach, dahinter nur ein tiefes Loch und glühender, qualmender Schutt. Darin entdeckten die Götzgers die beiden Milchkännchen: "Sie waren zum zweiten Mal gebrannt worden."

Die Bevölkerung Nürnbergs erntete in den Stunden der Luftangriffe wie viele andere Städte in Deutschland den Sturm, den die deutschen Truppen seit Kriegsbeginn mit ihren verheerenden Angriffen gesät hatte, wie im englischen Coventry, in London, in Warschau, in Rotterdam und anderswo in ganz Europa. "Das Verbrechen, welches mit dem Überfall auf Polen durch unseren Staat begann, musste bis zum bitteren Ende durchgestanden werden", erklärte Hannelore S., Jahrgang 1927, im Zeitzeugeninterview für die Dokumentation des Stadtarchivs. "Wie konnten wir auf Rücksicht rechnen, nach all dem Schrecklichen, das vorausgegangen war?"

Krieg: 17 Luftattacken auf Nürnberg

17 schwere Luftattacken auf Nürnberg prägten die Kindheit von Karl Christian Götzger. Seine Schule war Ende 1943 "einfach nicht mehr da", erinnert er sich. Ein paar Monate musste er in einer Dorfschule im Osten Nürnbergs den Unterricht besuchen. Im Jahr 1945 sind sein Bruder und er wieder in der Stadt, als die alliierten Militärs das Ziel haben, den Widerstand der Bevölkerung zu brechen, aber auch deutsches Militär wieder in die Heimat zu zwingen.

Propagandaminister Josef Goebbels war noch am 4. Juni 1944 auf dem Nürnberger Hauptmarkt aufgetreten und hatte Durchhalteparolen ausgegeben. Mit den modernen Baumethoden würde es angeblich nur ein Jahr dauern, Nürnberg wieder aufzubauen, sagte er voraus. Es sollte aber 20 Jahre dauern, bis Nürnberg einigermaßen vom Schutt befreit war und Häuser neu gebaut wurden.

Gedenkstunde in Nürnberg

Am 2. Januar 2020 veranstalten die Stadt Nürnberg und die evangelische und katholische Kirche eine Gedenkstunde aus Anlass des 75. Jahrestages der Zerstörung Nürnbergs. Beginn ist um 18 Uhr an der kath. Kirche in Wöhrd, wo das Flächenbombardement begann.

Dann zieht der Zug über Stationen in der Laufer Gasse zur Sebalduskirche. Der Abschluss findet um 19.20 Uhr in der Sebalduskirche statt mit Geläut aller Nürnberger Glocken zur Erinnerung an den Beginn des Bombardements.