Für das Buch hat die Kulturwissenschaftlerin Eva Gesine Baur den üppigen Briefwechsel ausgewertet, der von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), dem rast- und ruhelosen Weltgenius, erhalten und inzwischen auch ediert und zugänglich ist. Vom Opfer-Mythos, den Miloš Formans Amadeus-Film breitenwirksam untermauert hat, bleibt da nicht viel übrig: Stattdessen kommt Mozart als Lügner und eitler Intrigant daher, jemand, "der seinen Vater belog und betrog, der sich unflätig über Menschen äußerte, denen er viel verdankte, der seine Schwester im Unglück hängen ließ und Unschuldige verleumdete," stellt Baur gleich im allerersten Absatz dar.

Baur hat Briefwechsel von Mozart ausgewertet

1781 schreibt er über seine Klavierschülerin Josepha Auernhammer, die selbst komponiert und die Drucklegung von Mozarts Noten betreut: "Sie ist dick wie eine Bauerndirne, abscheulich und schmutzig", weiterhin "hässlich, dass man speien möge". Ihre Mutter: "Dumm, boshaft und die närrischste Schwätzerin von Welt".

Seinem todkranken Vater verspricht er einen (letzten) Besuch, ohne dies einzulösen. Auch für die Seelenmesse drei Tage nach dessen Tod hat Mozart jun. keine Zeit. Stattdessen veranstaltet er kurz darauf ein feierliches Begräbnis im Garten für seinen Hausvogel, einen Staren. Von Obszönitäten und Fäkalsprache in Mozarts Briefen will man gar nicht reden - die gelten seit den 1970ern allemal als spaßhaft ("Zu schnelles Prima-Vista-Spiel und scheißen", schreibt Mozart zum Beispiel, sei für ihn "einerlei").

"Die Größe des Werks wird von menschlichen Schwächen nicht beeinträchtigt", stellt Baur klar: Aber um der Werkverehrung willen über die charakterlichen Abgründe hinwegsehen, wie das manche andere Mozart-Biografen taten, gar Notkonstrukte zulasten anderer bemühen (strenger Vater, unsolide Frau) - das sei ja nun auch keine Lösung.

Johann Sebastian Bach als unbekannte Persönlichkeit

Wenn man nun vergleichsweise zum anderen Titanen der Musikwelt hinüberblickt, zu Johann Sebastian Bach, ist die Versuchung fern, den Meister unsympathisch zu finden. Denn die vorhandenen Quellen über den Menschen Bach geben nichts über ihn preis. Schon der große Bach-Biograf Albert Schweitzer war darüber mehr als glücklich: "Daß der Mensch Bach ein Geheimnis bleibt, daß wir außer seiner Musik nichts von seinem Denken und Fühlen wissen, daß er durch keine Gelehrten- und Psychologenneugierde entweiht werden kann, ist so schön. Was er war und erlebt hat, steht nur in seinen Tönen ..."

Der Autor Robert Schneider hat in seinem Roman "Die Offenbarung" den Versuch gemacht, den menschlichen Schleier über Bach zu heben. Im letzten Kapitel kommt der alte Bach als ein miesepetriger Leuteschinder daher, der mit der ganzen Welt im Unreinen ist - und das die Welt auch minütlich spüren lässt. Das Manuskript seiner letzten Passion, um das sich der Roman dreht, lässt ein Assistent absichtlich in einem abgelegenen Winkel einer Orgel liegen, um sich für zahlreiche erlittene Demütigungen zu rächen.

Briefe erlauben einen Blick in Mozarts Persönlichkeit

Im Falle Mozarts braucht es keine literarische Fantasie, um sich ein Zusammenarbeiten oder gar Zusammenleben mit dem Komponisten als äußerst unangenehm vorzustellen. Es reicht ein Blick in die zahlreich erhaltenen Briefe.

Fast unglaublich ist eine Episode aus dem Jahr 1783: Mozart schreibt seinem Freund, dem Salzburger Hornisten Joseph Leitgeb, auf dessen wiederholtes Drängen ein Rondo. Allerdings unter der Bedingung, dass der 50-jährige Leitgeb während der Niederschrift auf den harten Holzdielen knien muss.

Was wie ein lustiger Streich klingt, ist in Wahrheit eine Bösartigkeit: "Das Leiden inspiriert den Komponisten", schreibt Baur. Denn die Tortur dauert zwei Stunden: Immer wenn Leitgeb aufstehen will, droht Mozart, das Blatt zu zerreißen. Bei Takt 23 notiert er: "Leitgeb bittet um Hilfe."

Baur: Mozarts Musik ist Welterfahrung

Wie passt das zusammen mit dieser unbeschreibliche Musik, die Mozart am gleichen Tag, zu gleicher Stund, in gleicher Gemütsverfassung schrieb, die Musik, von der Karl Barth sagte, sie werde von den Engeln im Himmel immer dann gespielt, wenn sie unter sich seien - diese Musik, die Baur übrigens dem Leser gekonnt nahebringt, so nahe, wie es eben mit Worten möglich ist?

Gar nicht, schließt die Autorin: "Weil Mozarts Musik keiner Worte bedarf und auch keiner Vergleiche mit Sprache. Sie ist Welterfahrung, losgelöst von jeder irdischen Gestalt. Sie ist Musik und nur Musik. Ihre Macht liegt eben darin."