Die Mandelblüte

Es ist Mitte Februar. Vor-Frühling im Xalon-Tal an der Costa Blanca in Spanien - nördlich von Alicante, einige Kilometer von der Küste entfernt im Landesinneren. Grüne Wiesen, Hügel, am Horizont Berge, darüber der blaue Himmel und über allem strahlt eine milde Frühlingssonne. Und Mandelbäume überall. Und diese Mandelbäume blühen. Es ist ein Meer aus Blüten, weiß und rosa. Ein Teppich aus Mandelblüten, so weit das Auge reicht.

Ein Ehepaar hat mir davon erzählt. Jahrelang sind sie hingefahren im Frühjahr, zur Zeit der Mandelblüte im Xalontal. Seit einigen Jahren geht das nicht mehr. Das Alter, sagen sie. Doch von der Mandelblüte erzählen sie, als ob sie erst gestern dort waren. In der Erinnerung blüht der Mandelzweig, feingliedrig und zart, weiß und rosa. Eigentlich ist so etwas ja nichts Aufregendes. Es ist Natur, ganz natürlich, ganz selbstverständlich. So ist das nun einmal im Frühjahr. Die Bäume treiben aus, es kommen die Knospen, noch braun und hart. Und dann brechen die Knospen auf und zarte Blätter kommen hervor, strecken sich dem Licht entgegen, leuchten in der Sonne. Ganz natürlich und doch etwas Besonderes. Da kommt etwas Neues in die Welt, ganz sanft und voll Kraft von innen. Und das zieht Menschen an. Einheimische, denen das Schauspiel bekannt ist, bleiben immer wieder einmal stehen und staunen. Touristen kommen von weit her, um das Schauspiel von Farbe und sanften Formen zu sehen. Da bricht etwas auf, in der Natur. Da bricht es auf in der Seele. Da beginnt ganz vorsichtig Zukunft. Der Mandelzweig ist eine Verheißung.

Das hat Menschen schon immer berührt, auch in biblischen Zeiten. Im Buch des Propheten Jeremia liest es sich so:

Und es geschah des HERRN Wort zu mir: Jeremia, was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen erwachenden Zweig.
Und der HERR sprach zu mir: Du hast recht gesehen; denn ich will wachen über meinem Wort, dass ich's tue. (Jeremia 1,11f)

Ein Mandelzweig erwacht. Und um den Zweig herum Gott und Jeremia, ein Mensch, der noch nicht weiß, was aus ihm werden soll, was er machen kann. Was siehst Du? Einen erwachenden Zweig. Ganz einfach – nichts Besonderes. Und doch genau darin liegt das Entscheidende: im Augenblick. Mach die Augen auf, sieh genau hin, schau, was vor Deinen Augen, was um Dich herum geschieht. Ein Mandelzweig, der aufblüht, ein Moment des sanften Aufbruchs – wie leicht kann man den verpassen, das Zeichen für eine blühende Zukunft, wie schnell kann man das übersehen? Du nicht, Jeremia, Du siehst, was geschieht. Und Du bist mitten drin. Mehr noch: Du bist nicht nur mitten drin, Du siehst, du verstehst – und du sollst anderen die Augen öffnen. Du bist der Botschafter der sanften Revolution. Dagegen hat sich Jeremia gewehrt, Botschafter Gottes, Propheten der neuen Zeit zu werden. Er will nicht: "Ich tauge dazu nicht, ich bin zu jung." So kommt Gott nicht weiter. Dann ein neuer Versuch Gottes, der blühende Mandelzweig. Schau genau hin – und die sanfte Kraft der Blüte, die aus den Knospen bricht, bricht auch das Nein auf. Jeremia, in seinem Kokon der Vorsicht eingesponnen, bricht auf, blüht auf. Er wird Prophet, er wird zum Botschafter der Zukunft Gottes, die gerade beginnt. Und der Augenblick der Blüte wird zum Einblick in Gottes Kraft, zum Ausblick in die Zukunft. Gott bestätigt, bekräftigt, was da aufbricht, beschützt, was da Neues entsteht. Vertrau mir, Jeremia, was da wächst, ich will darüber wachen.

Und Jeremia wird zum Propheten der Mandelblüte, des Wachsens und Wachens Gottes. Nein, ein Prophet bin ich nicht, auch nicht als theologisch geschulter Pfarrer und Prediger. Das ist mir eine Nummer zu groß. Aber vielleicht kommt es darauf auch nicht unbedingt an. Worauf es ankommt, ist schlicht: den Mandelzweig zu sehen, dem Augenblick zu trauen, den Aufbruch zu spüren, das Vertrauen wachsen zu lassen, dass Gott wacht bis zum Ende. Uns fragt Gott: Was siehst Du? So blüht und wächst ein neues Leben.

Einer, der den Mandelzweig hat blühen sehen, - vielleicht zur selben Zeit, am selben Ort als der Prophet Jeremia 2500 Jahre vorher - das war der jüdische Journalist und Religionswissenschaftler Schalom Ben Chorin. 1913 wurde er in München geboren, machte dort sein Abitur am Luitpold-Gymnasium und studierte an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität München. 1935 floh er nach Palästina. 1942, Schalom Ben Gurion war gerade neunundzwanzig Jahre alt, verschärfte sich der Konflikt zwischen einwandernden Juden und Palästinensern und Nachrichten über die massenhafte Vernichtung von Juden durch Nazideutschland verbreiteten sich immer weiter. Ben Chorin erinnert sich: "Wenn ich an kalten Februartagen auf den Balkon vor meinem Arbeitszimmer trat, fiel mein Blick immer wieder auf diesen Mandelbaum, der bereits weiß-rosa Blütenblätter zeigte, wenn alle anderen Bäume ringsum noch winterlich kahl blieben … Wenn ich aber verzagt und hoffnungslos dem kommenden Tag entgegenblickte, haben mich der Mandelbaum und seine geflüsterte Botschaft gestärkt. In den düstersten Jahren des Zweiten Weltkrieges und der beispiellosen Verfolgungen hat sich mir dieses Erlebnis zu einem Lied verdichtet."

Die Mandelblüte erinnerte ihn an die wenigen Verse im Buch des Propheten Jeremia. Und daraus wurde ein Gedicht mit dem schlichten Titel "Das Zeichen."

Der Einbruch der Kälte

Die Mandelblüte ist eine besondere Blüte. Denn sie bricht auf, wenn es noch kalt ist, im Vorfrühling. Für Schalom Ben Chorim hat sie geblüht in Zeiten, in denen es in der Welt immer kälter wurde: vor achtzig Jahren, als die Schreckensmeldungen vom Holocaust sich verbreiteten, und das Kriegselend immer größer wurde. Sie wurde ihm zum Zeichen, dass Gottes Wille zum Frieden stärker ist als die Schwäche und die Dummheit und die Boshaftigkeit des Menschen, die in den Abgrund führen.

Gerade wer die Mandelblüte sieht, übersieht nicht, wie gefährdet ihr Blühen ist, ahnt den kalten Wind, der kommen kann, das Eis, das die Blüten erfrieren kann. Und wir haben es doch auch selber immer wieder erlebt: dass die Mandelblüten der Hoffnung, kaum waren sie aufgeblüht, immer wieder erfroren sind, im eigenen Herzen, in unserer Gesellschaft, auch in unserer Kirche.

Kaum war der zweite Weltkrieg vorbei, kam schon die Zeit des Kalten Krieges. Statt Tauwetter neue Eiszeit. Vor fünfzig Jahren, in den 68ern, blühte die Flower-Power-Bewegung, Hoffnung, Aufbruch war spürbar, Veränderung möglich. Und einer ihrer Hoffnungsträger, der Bürgerrechtler Martin Luther King wurde erschossen. Der Prager Frühling, ein Zeichen, dass der Sozialismus ein menschliches Gesicht haben könnte, wurde von sowjetischen Panzern niedergewalzt. Wie groß waren die europäischen Hoffnungen, als 1989 endlich der eiserne Vorhang fiel und ein neues Europa über die alten Grenzen der Nationen hinweg sichtbar wurde. Heute, knapp dreißig Jahre später, werden neue Grenzmauern aufgezogen. Wie lebendig, wie jung und voll Leben war der arabische Frühling im Jahr 2010, vor nicht einmal zehn Jahren. Und auch dessen Blüten sind erfroren. Und wie mutig und hoffnungsstark war der Satz von Angela Merkel, "Wir schaffen das"! Vor drei Jahren öffnete sie mit diesem Satz Grenzen für Flüchtlinge, öffnete Herzen für Mitmenschlichkeit und eine bessere Zukunft für alle. Aus dem Zeichen des Aufbruchs wurde die Dauerkrise, aus Mut Mutlosigkeit, die Hoffnungen verblühten, stattdessen trieben die Ängste ihre seltsamen Sumpfblüten. Was ist mit der Mandelblüte und ihren Verheißungen? Alles nur ein kurzes Farbenspiel auf Zeit?

Kehren wir nochmals zurück zu Jeremia, dem Propheten des blühenden Mandelzweigs. Wie ist es ihm ergangen, nach seiner Berufung? Was hat er nach den Mandelblüten, die ihm die Augen öffneten, noch gesehen? Alles gut, die Welt in rosa? Nein, leider nicht, eher im Gegenteil. Er hat ein Volk gesehen, sein Volk gesehen, das blind war gegenüber Gottes Gegenwart, ein verlogener Haufen, angefangen vom König und seinen Priestern. Verlogen die Mächtigen, weil sie ihre Macht über das Recht stellen. Verlogen ein Volk, das überall nach Vorteilen schielt – auf der Suche danach, so Jeremia, gehen sie den Vogelfänger auf den Leim. Diese ködern das Volk mit ihren Lockangeboten: ihr seid das Volk, die anderen nicht. Und so findet sich das Volk wieder als fette Beute im Vogelkäfig der Seelenfänger. Verlogen eine Priesterschaft, die das Volk mit Hinweis auf die Gaben Gottes beruhigt, aber die Aufgaben der Erwählung schamlos verschweigt. Weil ihr Gott aufgegeben habt, werdet ihr gierig. Und die Gier frisst in Eurem Inneren. Und deswegen werdet ihr eine leichte Beute für die Feinde, die von außen kommen, vom Norden oder vom Osten oder vom Süden: sie werden eure lächerlichen Mauern niederreißen und Eure Schätze plündern. Das sagt der Prophet voraus und kann doch nichts retten, nicht das Volk Israel, nicht sich selber: er wird verfolgt, und mit einem Teil des Volkes nach Ägypten verschleppt, wo er stirbt.

Mich berührt diese Geschichte, diese Spannung zwischen dem aufblühenden Mandelzweig als Zeichen der Gegenwart des guten Gottes und dem gnadenlosen Untergang. Ich bringe diesen Anfang und dieses Ende nicht zusammen. Hat Jeremia es zusammengebracht? Angefangen hat es mit einem blühenden Mandelzweig, ein sanftes Zeichen verbunden mit dem Gefühl des Aufbruchs, dazu das Versprechen, dass Gott mitwächst und wacht bis zum Ende. So gingen ihm die Augen auf, so erwachte seine Seele. Waren die Augen einmal geöffnet, sah er auch hellwach anderes wachsen, die Lüge, die Dummheit - und seine Seele rieb sich daran. Und das ließ ihn zum scharfen Kritiker werden und auch zum Ankläger. Und mehr noch: er begann zu klagen und zu trauern. über Mandelblüten, die erfroren sind, über Träume, die geplatzt sind, über Hoffnungen, die langsam sterben im Vogelkäfig der Ängste. Und in der Trauer wird die verlorene Geschichte wieder lebendig: es gab doch den Moment der Mandelblüte und das Versprechen des guten Gottes. Wer will mir das nehmen? Es gab doch das unfassbare Glück, dass Kriege enden und Mauern fallen und Grenzen sich öffnen. Haben wir das vergessen? Es gab doch die Augenblicke, in denen das Leben unendlich leicht war – und davon leben wir. Die Klage wurzelt in einer anderen Welt, im Augenblick und Anblick der Mandelblüte, auch wenn sie weit zurückliegt. , Sie besingt, dass da etwas ist, das mächtiger ist als der Tod und sanfter als alle Macht. Eine Kraft, die überleben lässt, die Widerstandskraft der Liebe. Halten wir uns daran fest. Verteidigen wir sie.

Jeremia hat davon ein Lied gesungen, sein Lied. Ein anderes Klagelied der Hoffnung singt von den Blumen und von Menschen und wohin sie verschwunden sind. Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben …

Die Friedenstaube

Freunde, dass der Mandelzweig
Wieder blüht und treibt -
Achtet dieses nicht gering,
In der trübsten Zeit.

So heißt es im Gedicht von Schalom Ben Chorin. Achtet die kleinen Zeichen, die Anzeichen für ein ganz anderes Leben nicht gering. Es geht um das Sehen und darum, auf das, was man gesehen und eingesehen hat, sich auch einzulassen. Den Zeichen zu trauen. Das klingt einfach. Ist es das? Wie war das etwa in der Arche. Da saß Noah fest, eingeschlossen, ohne Blick für das, was um ihn herum geschieht. Wird er in der Arche elend zu Grunde gehen? Er weiß es nicht. Er betet zu Gott und verflucht ihn, er hofft und verwirft die Hoffnung, an der er fast irre wird. Und dann schickt er Vögel in eine Welt, die vielleicht schon längst kaputt gegangen ist. Sie kommen zurück. Zuerst der Rabe, der ohne Hinweis kommt, dann kehrt die Taube mit leerem Schabel zurück. Schlechte Zeichen. Und noch einmal wagt er es: und zurück kommt die Taube mit einem Ölblatt. Nur ein Ölblatt, noch weniger als blühender Mandelzweig. Vielleicht der letzte Rest einer untergangenen Welt? Oder doch, wenn auch ein dürftiges Zeichen des Überlebens? Es liegt jetzt ganz bei Noah: die Luken öffnen und entweder die Wassermassen hinein zu lassen und in der Arche zu ersaufen – oder draußen vielleicht wieder Licht zu sehen und Land und Boden unter die Füße zu bekommen. Er hat nicht mehr als ein einziges Ölblatt. Und er öffnet die Luke. Was kommt herein: Wasser des Todes oder Licht des Lebens?

Diese kleinen Dinge der Hoffnung, das müssen nicht Mandelzweige oder Ölblätter sein, das können auch ganz andere Dinge sein, etwa ein Bleistift oder ein Buntstift. Jedenfalls hat Malala Yousafzi dies so gesehen und so gesagt. Am 12. Juli 2013, ihrem sechzehnten Geburtstag hielt sie eine Rede, ihre Rede vor den Vereinten Nationen. Ein Jahr zuvor haben Taliban auf sie geschossen, in den Kopf geschossen, weil sie sich Bildung für Mädchen wünschte. Sie überlebte und sagte in ihrer Rede am Ende etwas Bemerkenswertes: Lasst uns unsere Bücher und Stifte holen, sie sind unsere stärksten Waffen. Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern. Bücher und Stifte, das ist nicht viel. Das sind Kleinigkeiten. Und doch sind sie Zeichen für eine andere Welt, eine bessere Welt. Wenn man sieht, was man mit ihnen machen kann, wie Kinder sich dadurch entwickeln können, wie Kinder dadurch stark werden. "Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.", hat Malala gesagt. Und wenn man genau hinsieht und sich einlässt, dann sieht man sich bald selber in einer neuen, einer anderen Welt.

Und Gott spricht zu Dir und fragt Dich: was siehst Du – und ich sage: ich sehe einen erwachenden Mandelzweig. Und genau dies braucht es, nicht mehr: die kleinen Dinge zu sehen als Zeichen des großen Gottes. Vielleicht überfordern wir uns als Menschen auch: etwas Besonderes sollen wir tun, damit es uns und unseren Kindern besser geht. Etwas Großes sollen wir auf die Beine stellen gegen das versteckte und das offene Elend dieser Tage. Etwas Tapferes sollten wir tun gegen die Mutlosigkeit der Zeit. Das ist richtig, das ist gut. Aber haben wir dazu genügend Kraft? Und laufen wir damit nicht Gefahr, uns zu überfordern und selber mutlos zu werden? Wir müssen nicht zu Überhelden werden, und jeden Tag die Welt retten. Wir müssen nicht einmal zu Friedenstauben werden, die im Chaos der Tage Hoffnungszweige suchen. Die Überhelden überlassen wir den Comics, die Friedenstauben dem lieben Gott. Aber was wir können, ist hinzusehen und uns einzulassen. Den Mandelzweig zu sehen und sich daran einfach zu freuen. Das Ölblatt zu sehen und die Luken aufzumachen und nachzusehen, ob da draußen nicht doch ein freundlicher Gott und eine bewohnbare Welt ist. Den Kindern Stifte zu geben, dass sie ihre Welt zeichnen – und als Zeichen einer Welt, die offen ist für Junge.

An diesen kleinen Dingen hat auch Gott seine Freude. Und sie gehen nicht verloren. Im letzten Buch der Bibel wird berichtet, wie die alte Welt endet und eine neue sich auftut. Und genau dort finden sich die kleinen Dinge wieder und Menschen, die dazu gehören:

Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen.

Da sind sie wieder, die Menschen mit ihren kleinen Dingen, hier den Palmzweigen. Aber ich stelle mir vor – und der liebe Gott könnte darüber vielleicht auch lächeln – dass neben Palmzweigen auch noch der blühende Mandelzweig zu sehen ist – den halten sie gemeinsam hoch: Jeremia und Schalom Ben Chorin und dieses Ehepaar, das schon lange nicht mehr im Xalontal war. Und Noah hat seinen Ölzweig dabei. Kinder wie Malala heben ihre Stifte nach oben. Und da hinten, da sehe ich Großeltern, die Vorlesebücher hoch halten. Und eine Ärztin hält ihr Stethoskop in die Luft. Und ein Baggerfahrer einen großen Schraubenschlüssel. Und wenn Sie genau hinsehen, dann sehen Sie sich auch selber, in der Hand ein kleines Ding, etwas das nur Sie genau kennen. Etwas, das Sie begleitet hat und das Sie hineinführt in die Zukunft Gottes.