Wie Oberkirchenrat Nikolaus Blum als Chef des Landeskirchenamts in einem Gespräch mit dem Sonntagsblatt erläuterte, fehlt in allen kirchlichen Arbeitsfeldern der Nachwuchs.

Deshalb wird in Zukunft nicht mehr ein Pfarrer die Gemeinde leiten, sondern vielleicht eine Religionspädagogin oder ein Diakon - eingebettet in ein berufsübergreifendes Team.

Neue Zielgruppen kann die Kirche durch digitale Formate erreichen, die durch Corona einen großen Schub bekommen haben. Die individuelle Seelsorge als menschliche Eins-zu-Eins-Beziehung, bleibt aber auch in Zukunft ein wesentlicher Bestandteil der Kirche, die sich mit einem umfassenden Reformkonzept neu aufstellen will.

Den umfassenden kirchlichen Reformprozess "Profil und Konzentration" (PuK) haben Sie als einen Magneten bezeichnet, auf den sich alle weiteren Planungen und Vorhaben zuordnen. Stören Corona und seine Folgen jetzt dieses Magnetfeld?

Blum: Natürlich hat Corona Auswirkungen auf die Kirche. Dennoch bleibt das Reformkonzept PuK ganz klar der Magnet, an dem sich alle Entwicklungen ausrichten. Es ist für mich überhaupt keine Frage, dass Corona ernstgenommen werden muss.

Eine Fixierung auf Corona halte ich aber auf Dauer für problematisch, nicht nur für die Kirche, sondern für die gesamte Gesellschaft, weil andere Themen und Fragen weitgehend ausgeblendet werden. In der Corona-Diskussion zeigt sich nach meinem Dafürhalten ein übersteigertes Bedürfnis nach Sicherheit, nach Planbarkeit und festen Strukturen.

Die Welt und das menschliche Leben sind jedoch wesentlich komplexer. Wir brauchen viel mehr Bereitschaft, auch in unsicheren Zeiten Verantwortung zu übernehmen und sich infolge dessen, weil Fehler möglich sind, mit Fragen von Schuld und Vergebung auseinanderzusetzen.

Aber ganz spurlos wird Corona an dem kirchlichen Reformprozess doch auch nicht vorbeigegangen sein?

Blum: Corona hat - wie bereits gesagt - natürlich Auswirkungen auf die Kirche. Das Gesamtgefüge und die Zielrichtung des Reformprozesses hat Corona jedoch nicht verändert. Die Pandemie hat manche Vorhaben verzögert, an einzelnen Punkten aber zu Beschleunigungen geführt.

Vor allem für die Digitalisierung, die auch zu dem Reformpaket gehört, haben die Corona-Beschränkungen einen ganz deutlichen Schub gebracht. Weil Präsenzveranstaltungen wie Gottesdienste nicht mehr möglich waren, mussten ganz schnell digitale Formate auf die Beine gestellt werden, mit denen wir teilweise neue Zielgruppen erreichen konnten.

Und genau das ist ja der Kernpunkt von PuK, wie die Kirche die christliche Botschaft wieder neu und überzeugend zu den Menschen bringen kann. Die Digitalisierung ist deshalb ein Querschnitts-Thema von PuK, das sich modellhaft durch die verschiedensten Arbeitsbereiche und Abteilungen zieht.

Gilt dieser Schub auch für die kirchliche Verwaltung hin zur "digitalen Akte?"

Blum: Ja, auch wenn es derzeit noch nicht zu sehen ist. Momentan fahren wir noch die Akten, die in einer zentralen Registratur abgelegt sind, mit dem Wägelchen über die Flure hin und her. Allerdings ist durch Corona die Digitalisierung enorm vorangekommen, vor allem bei den Mitarbeitenden, die in den letzten Monaten die Möglichkeiten und Vorteile des digitalen Arbeitens kennengelernt haben.

Die nötige Umstellung auf Home-Office-Arbeitsplätze hat überraschend gut geklappt. Unser Ziel für die nächsten Jahre ist, dass die meisten Abläufe in vollem Umfang digital stattfinden und Enddokumente digital gespeichert werden.

Gibt es dafür einen Zeitplan?

Blum: Bei einem derart komplexen Projekt, bei dem alle Mitarbeitenden mitziehen müssen, das hohe technische Anforderungen stellt und bei dem gesetzliche Vorgaben zu beachten sind, wären genaue Zeitangaben vermessen. Die Umsetzung geht nur schrittweise und wird voraussichtlich fünf bis zehn Jahre dauern.

Ich bin aber zuversichtlich, dass wir schon relativ bald, etwa in zwei Jahren, die digitale Personalakte haben werden. Das Ziel ist, dass die Verwaltung einfach und effizient läuft. Bisher beschäftigen wir uns noch viel zu viel mit Verwaltungsvorgängen. Viel zu häufig ist die Verwaltung ein Selbstzweck. Verwaltung ist dann am besten, wenn man sie gar nicht bemerkt.

Gerade in der Kirche muss Verwaltung die inhaltliche Arbeit entlasten und dem übergeordneten Auftrag dienen - womit wir wieder bei dem PuK-Dreieck wären.

Bisher scheint bei den Reformen vor allem die strukturelle Seite im Vordergrund zu stehen, wo bleiben die oft beschworenen Inhalte?

Blum: Diesen Eindruck kann ich nicht teilen. Denn PuK ist schon längst in den Dekanatsbezirken und Gemeinden angekommen. Als Beispiele seien genannt, dass das "Denken in Räumen", also über Gemeindegrenzen hinweg, mittlerweile weit verbreitet ist, dass neue digitale Räume erschlossen wurden, dass Gemeinden und sogar Dekanatsbezirke ganz neu miteinander kooperieren, dass es gemeinsame Projekte von Diakonie und Gemeinden gibt, dass neue Mitarbeitende bei "Willkommenstagen" mit den kirchlichen Inhalten ihrer Arbeit vertraut gemacht werden, dass in einem Projekt die Kirche für junge Menschen über neue Kirchenmusik wieder attraktiver werden soll.

Man könnte noch viele Beispiele hier aufführen. Ein wesentlicher Punkt ist auch die neue Landesstellenplanung, bei der die Dekanate als mittlere Ebene neue Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten bekommen und damit eigene inhaltliche Schwerpunkte setzen können. Grundlage dafür ist die Einsicht, dass nicht mehr die Kirche als Institution im Mittelpunkt steht, sondern die Bedürfnisse der Menschen in ihren jeweiligen Lebenssituationen und Regionen.

Das ist also eine ganz andere Haltung.

Deshalb gibt es auch viele Projekte, die im Geiste von PuK ausgerichtet sind, bei denen aber nicht explizit PuK draufsteht.

Dieses neue Entscheidungssystem betrifft ja nicht zuletzt die oberste Führungsebene, die Kompetenzen abgibt. Wird dadurch die evangelische Kirche wieder evangelischer?

Blum: Aus meiner Sicht ist es ein völlig falsches Führungsverständnis, wenn von oben herab alles bis in die Details geregelt werden soll. In der Kirche muss es in erster Linie um eine geistliche und geistige Führung gehen. Durch PuK bekommt auch die Kirchenleitung den Impuls, sich auf die echten Führungsaufgaben zu konzentrieren, also inhaltlich zu führen und gute Rahmenbedingungen zu schaffen.

Die konkrete Umsetzung und die Einzelentscheidungen sind dann Sache der Ebenen, die vor Ort agieren und wo die Entscheidungen konkret auswirken. Das entspricht im Kern auch dem evangelischen Prinzip eines Priestertums aller Gläubigen, nach dem jeder einzelne Christ an jeweils seinem Platz Verantwortung für seine Kirche übernimmt.

Ja, unter dem Strich ist unsere Kirche durch den Reformprozess wieder evangelischer geworden.

Diese beschriebenen Konzepte und Reformen sind ja schön und gut. Ist es aber nicht das Hauptproblem der Kirche, dass sie mit ihrer Sprache vor allem die jungen Menschen nicht mehr erreicht?

Blum: Dem stimme ich zu. Die alten Floskeln und stereotypen Äußerungen verfangen bei jungen Menschen nicht mehr. Eine Lösung dafür zu finden, ist aber nicht so einfach. Denn wir haben ja einen Traditionsschatz anvertraut bekommen, der vielen Kirchenmitgliedern lieb geworden ist und ihnen Kraft gibt.

Die Frage ist, wie wir diesen Schatz für junge Menschen zugänglich machen. Entscheidend wird sein, ob die einzelne Pfarrerin, der einzelne Pfarrer einen sprachlichen Zugang zu den jungen Leuten finden. Wir brauchen Übersetzer im wahrsten Sinne des Wortes. Das lässt sich nicht zentral steuern. Wir können nur Beispiele für gelingende Sprache entwickeln.

Ein Schritt kann das bereits erwähnte Projekt einer speziellen Musik für die Jugendkirchen sein. Wichtig ist, dass die Pfarrer den Freiraum bekommen, auch mal neue Formen auszuprobieren, ohne dass es nach einem alten hierarchischen Reflex bei abweichendem Verhalten sofort etwas auf den Hut gibt.

Wird sich Seelsorge insgesamt ändern?

Blum: Das sehe ich nicht. Der persönlichen Seelsorge, der individuellen Zuwendung wird auch in Zukunft eine ganz wichtige Bedeutung zukommen. Die Seelsorge, die immer eine Eins-zu-Eins-Beziehung ist, ist von ihrem Wesen her vertraulich und aufwendig. Sie lässt sich nicht digital vervielfachen und medial ausbreiten. Deshalb wäre eine Kirche, die nur im digitalen Raum agiert, nicht vorstellbar und auch von niemandem gewollt.

Diese personalintensive Seelsorge muss aber auch bezahlt werden. Ist das nach Corona und den daraus folgenden finanziellen Einbußen auf Dauer zu machen? Kann die Kirche eine verlässliche Arbeitgeberin bleiben?

Blum: Es liegt auf der Hand, dass die Corona-Pandemie zu einschneidenden finanziellen Einbußen geführt hat. Allein für das laufende Jahr rechnen wir mit Einnahmeverlusten in Höhe von 130 Millionen Euro. Im Landeskirchenrat sind wir dabei, eine verlässliche mittelfristige Finanzplanung für die Landeskirche bis zum Jahr 2030 zu entwickeln.

Dazu gehören auch Hilfsfonds, damit kirchliche und diakonische Einrichtungen, etwa im Bildungsbereich, denen durch den Lockdown Teilnehmerbeiträge fehlen, über die Runden kommen. Es gibt drei Grundhaltungen, mit denen wir den Reformprozess und die finanzielle Neuausrichtung bewältigen: Ehrlichkeit, Offenheit und Vertrauen.

Es liegt an uns, ob wir mit dieser Haltung reden und handeln - dafür möchte ich explizit werben. Einen innerkirchlichen Verteilungskampf soll und wird es nicht geben. Auch Entlassungen können wir zumindest auf absehbare Zeit ausschließen, die Arbeitsplätze sind nicht gefährdet. Im Personalbereich laufen wir sogar auf ein ganz anderes Problem zu, denn da geht uns nicht das Geld aus, sondern das Personal.

Was sind dafür die Ursachen?

Blum: Es fehlt einfach der Nachwuchs - und zwar in allen kirchlichen Arbeitsfeldern - mit Ausnahme der Diakone. In zehn Jahren rechnen wir mit 40 Prozent weniger Pfarrerinnen und Pfarrer, in 15 Jahren werden es nur noch die Hälfte sein. Analog dazu werden Kirchenmusiker und Religionspädagogen fehlen, weil sich immer weniger junge Menschen für diese Berufe entscheiden.

Wie kann es dann trotzdem noch ein kirchliches Leben, eine Seelsorge geben?

Blum: Ein Ansatz ist eine stärkere Kooperation der Berufsgruppen in arbeitsteiligen Teams. Wer was macht, richtet sich dann nicht mehr nach starren, schematischen Mustern, sondern nach der individuellen Befähigung der Teammitglieder und der jeweiligen Herausforderung vor Ort.

Es ist dann durchaus möglich, dass eine Religionspädagogin oder ein Diakon eine Gemeinde führt, der Pfarrer sich dafür auf seine theologischen Aufgaben und Kompetenzen konzentrieren kann. So ergeben sich neue Möglichkeiten für spannende und abwechslungsreiche Berufsbiografien. Voraussetzung dafür ist natürlich eine dauerhafte Qualitätssicherung der kirchlichen Arbeit.

Wird dadurch aber nicht die Kirche ganz grundlegend verändert?

Blum: Das steht zu erwarten. Denn nach den jetzigen Prognosen sehen wir dem Ende der pfarrerzentrierten Kirche entgegen. Die Vorstellung, dass jede Kirchengemeinde einen Pfarrer oder eine Pfarrerin hat, die zu einhundert Prozent für die Gemeindemitglieder da sind und darüber hinaus die ganze Verwaltungs- und Leitungsarbeit machen, wird sich bald nicht mehr realisieren lassen.

Statt der zentralen Figur des Pfarrers handelt, wie bereits beschrieben, ein größeres Team. Es wird deshalb zu ganz neuen Formen des kirchlichen Lebens kommen mit einer größeren Breite und Buntheit und mehreren Ansprechpartnern, die jeweils auf die Bedürfnisse und Ansprüche der Gemeindemitglieder reagieren können.

Meine große Hoffnung ist, dass sich dadurch auch neue Zugänge zu den Menschen ergeben. Und das wäre wiederum ganz im Sinne unseres Reformprozesses.