Eine liebevoll gepflegte Meistererzählung vom evangelischen Gewissen lautet so: 1521 auf dem Reichstag in Worms - Martin Luther widersteht dem Kaiser ins Angesicht mit den Worten "Da ich durch die angeführten Schriftstellen überwunden bin und mein Gewissen in Gottes Wort gefangen ist, kann und will ich nicht widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch recht ist." Eine religiöse Revolution! Luther, der erste moderne Mensch und Vater des Protestantismus, weiß sich in Fragen des Heils keiner äußeren Autorität, sondern nur der inneren Stimme des eigenen Gewissens verpflichtet.

250 Jahre später in Königsberg: Immanuel Kant begründet die ethische Autonomie des Gewissens. Eine philosophische Revolution, mit der Kant "die letzte Konsequenz des Protestantismus" (Heinrich Heine) zieht und nicht nur die moderne Ethik begründet, sondern auch die protestantische Verbindung von Glaube und Gewissen auf eine neue philosophische Grundlage stellt. Kant, der "Philosoph des Protestantismus".        

"Luther und Kant"

"Luther und Kant" lautet deshalb das Motto dieser protestantischen Heiligenlegende, und zahlreiche Bücher, die bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts zum Thema publiziert wurden, kultivieren diesen protestantischen Gründungsmythos: Luther, ein Kant der Religion, und Kant, ein Luther der Philosophie. Zusammen bilden sie die intellektuelle Doppelspitze des modernen Protestantismus als individueller "Gewissensreligion" (Karl Holl) bis hin zu der befremdlichen Konsequenz, dass man das Phänomen des Gewissens als "ein Sondergut evangelischer Christen" (Martin Rade) verstehen wollte.

Heute muss man nur ein allgemeinbildendes Wörterbuch zu Rate ziehen, um zu erkennen, dass es sich bei dieser Erzählung um eine bewusste Konstruktion handelt, mit der sich der gebildete Protestantismus nicht zuletzt gegenüber dem Katholizismus als modern und aufgeklärt ausweisen will.

Doch Luther war keineswegs der Erfinder der modernen Gewissensfreiheit. Er lehrte vielmehr ein sich selbst an Gottes Wort bindendes Gewissen. Zwar gehören für Luther der Glaube und das Gewissen aufs Engste zusammen, aber gerade nicht so, dass mein Glaube das Ergebnis einer freien persönlichen Gewissensentscheidung wäre. Sondern so, dass das Gewissen als der Ort im Menschen verstanden wird, wo Gottes Wort in Gestalt von Gesetz und Evangelium gehört und gefühlt wird - als erschrockenes Gewissen zum Gericht und als getröstetes Gewissen aufgrund der Gnade Gottes.

Luther vernahm die Stimme des Gewissens also keineswegs als autonome, innere Stimme, sondern als den Ort, an dem Gottes richtendes und gnädiges Wort von außen ergeht und erfahren wird. Modern war an Luthers Berufung auf sein in Gottes Wort gefangenes Gewissen allerdings die Forderung, trotz abweichender Gewissensentscheidung von den herrschenden Autoritäten seiner Zeit anerkannt statt verfolgt zu werden.

Menschliche Vernunft als Instanz

Und Kant? Auch er war kein Vertreter der uneingeschränkten Gewissensfreiheit, sondern lehrte wie Luther ein verpflichtetes Gewissen, allerdings nicht dem Wort Gottes, sondern der menschlichen Vernunft. Für Kant war das Gewissen "das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen". Es galt ihm als diejenige Instanz, vor der sich alle Handlungen daraufhin befragen lassen müssen, ob sie in Übereinstimmung mit der praktischen Vernunft getan werden, die sich ihrerseits am ethischen Imperativ auszurichten hat.

Dieser ethische Imperativ wird von Kant als kategorisch, d. h. als allgemeinverbindlich bezeichnet und soll für alle möglichen Handlungen gelten können. Damit er universale Geltung beanspruchen kann, darf er keine besonderen Umstände oder Interessen berücksichtigen. Kant formuliert deshalb bewusst abstrakt: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Man hat darin eine Variation der goldenen Regel gesehen: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu", bzw.: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!" (Matthäus 7,12).

Kant geht jedoch über die goldene Regel hinaus, weil er seinem ethischen Imperativ keine konkreten Handlungen zugrunde legt, sondern Maximen, nach denen gehandelt wird. Maximen wiederum sind allgemeine Regeln, die für alle möglichen bzw. möglichst viele Handlungen gelten. Kant wendet sich damit gegen die ältere Kasuistik, in der immer nur Einzelfälle entschieden wurden, und plädiert für eine gesinnungsethische Orientierung an allgemeinen Handlungsmaximen.

Luther und Kant als Lehrer des Gewissens

Kant nennt selbst eine solche Maxime, wenn er dem kategorischen Imperativ folgende Fassung gibt: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." Für Kant ist der Mensch als Vernunftwesen in der Lage, seine Handlungen vor dem Forum des Gewissens zu verantworten, und gilt deshalb als Person mit einer spezifischen Würde. Personen dürfen deshalb niemals als Mittel zum Zweck gebraucht, sondern müssen ihrer Würde wegen immer als Selbstzweck anerkannt und behandelt werden.

Ein Abwägen von Fall zu Fall, unter welchen besonderen Bedingungen die Menschenwürde eingeschränkt werden kann und ein Mensch zum Mittel für einen anderweitigen Zweck (zum Beispiel die Volksgemeinschaft oder den wissenschaftlichen Fortschritt) instrumentalisiert werden darf, ist im Rahmen von Kants kategorischer Gesinnungsethik ausgeschlossen. Kants größtes Verdienst im Bereich der Ethik ist es deshalb, eine Begründung für die Universalisierung der Menschenrechte geliefert und dabei den hohen Stellenwert des Gewissens als moralische Kontrollinstanz herausgestellt zu haben. Insofern ist es richtig und wichtig, die Gewissensfreiheit wegen ihrer Bedeutung für die personale Identität eines Menschen und als Ausdruck seiner Menschenwürde in besonderer Weise zu schützen.

Das Gewissen prägen

Daraus folgt jedoch nicht, dass das Gewissen eine unfehlbare moralische Instanz ist und dass die Berufung auf die Freiheit der persönlichen Gewissensentscheidung unüberprüfbar und letztgültig ist. Geschichte und Erfahrung lehren vielmehr, dass sich das Gewissen auch irren bzw. verstummen kann und dass die Auskunft, man habe kein schlechtes bzw. ein gutes Gewissen, auch darauf hinweisen kann, dass das Gewissen keine angeborene Fähigkeit zur treffsicheren Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist. Vielmehr ist das Gewissen jedes Menschen durch die Erziehung und Kultur geprägt, in der es sich gebildet hat.

Ein Gewissen gibt es nicht ohne die Geschichte und den Kontext, in denen es sich entwickelt, sowohl in Gestalt der individuellen Lebensgeschichte und des engeren sozialen Umfelds als auch der kollektiven Kulturgeschichte und der jeweiligen Gesellschaft. Dass erwachsenen Menschen die Stimme ihres Gewissens als Kompass in ethischen Entscheidungssituationen sowie in der Beurteilung ihrer Handlungen zur Verfügung steht, hängt davon ab, ob sie eine entsprechende Gewissensbildung erfahren haben. Denn ethische Urteilsfähigkeit muss wie jede andere Kompetenz erlernt werden.

Statt willkürliche Freiheit ein gebundenes Gewissen

Dies erkannt und jeweils unterschiedlich zum Ausdruck gebracht zu haben, war nicht zuletzt die Leistung Luthers und Kants, die eben keine willkürliche Gewissensfreiheit, sondern ein gebundenes und verpflichtetes Gewissen gelehrt haben. Stellt sich die abschließende Frage, ob dabei das Wort Gottes oder die menschliche Vernunft als Kriterium dienen soll.

Trotz der für Christinnen und Christen naheliegenden Antwort ist in dieser Frage vor einer falschen Alternative zu warnen. Kant hat dem neuzeitlichen Christentum zu Recht die Mahnung ins Stammbuch geschrieben: "Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten." Mit einer unüberlegten Polemik gegen die "Hure Vernunft" (Luther) ist es deshalb nicht getan. Am wenigsten in ethischen Entscheidungsprozessen. Aber es gilt auch umgekehrt: Eine praktische Vernunft, die der Religion unbedenklich den Krieg ankündigt, wird auf Dauer an Orientierungs- und Motivationskraft einbüßen.

Denn vor allem in den Religionen werden diejenigen Maximen und Motive gepflegt, die Menschen bis heute dazu veranlassen, ihre Lebensführung gewissenhaft zu prüfen und an menschenwürdigen Maximen auszurichten. Natürlich ist das weder ein "Sondergut evangelischer Christen" noch des Christentums beziehungsweise der Religionen überhaupt. Aber die religiösen Überlieferungen halten bis heute Geschichten und Gleichnisse bereit, die zur religiösen und ethischen Gewissensbildung Entscheidendes beizutragen haben.