Der junge Mann fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er kam sich so anders vor als die anderen. Ruth Belzner, Leiterin der ökumenischen Würzburger Telefonseelsorge, fragte im Chat behutsam nach: Woran liegt das? Der Mann teilte ihr mit, dass er sich für Sachen interessiert, die für die meisten seiner Altersgenossen völlig uninteressant sind: »Er liebt es zum Beispiel, stundenlang in der Natur Tiere zu beobachten.« Im Chat vermittelte Belzner ihm, dass er in keiner Weise »falsch« ist. Es sei sein gutes Recht, anders zu sein. Obwohl er unter diesem Gefühl des Anders- und Ausgegrenztseins litt, hätte der junge Mann wohl nie zum Telefonhörer gegriffen, um darüber zu sprechen, vermutet Belzner.

Damit steht Belzners Chat-Partner nicht alleine da. Menschen wie er profitieren davon, dass immer mehr Telefonseelsorgen in Deutschland in die Chat-Beratung einsteigen. »Um die 40 sind es derzeit«, berichtet die Würzburgerin, die auch Bundesvorsitzende der evangelischen Konferenz für Telefonseelsorge ist. Zu den Vorreitern gehört die Evangelische Telefonseelsorge München. »Wir sind seit 2009 im Chat und seit 2015 in der Mailseelsorge mit rund 20 Ehrenamtlichen aktiv«, sagt Martha Eber vom Leitungsteam. Die Würzburger Telefonseelsorge wird ab Anfang 2018 Chat-Seelsorge anbieten. Sechs der 96 Ehrenamtlichen haben sich bereits dafür fortgebildet. Vier weitere werden noch folgen.

Bayerische Beratungsstellen gehen online

Ausgebildet wird unter anderem mittels »Übungschats«. Die reine Vor-Ort-Beratung gehört allmählich der Vergangenheit an, überall in Bayern bemühen sich Beratungsstellen, auch einen Online-Service anzubieten. Die Psychologische Beratungsstelle der Diakonie Regensburg hat damit schon Erfahrung. »Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene, die viel im Internet unterwegs sind, finden auf diesem Weg einen leichteren Zugang zu Unterstützung«, sagt Einrichtungsleiterin Rosl Ramming.

Auch Mütter mit kleinen Kindern nutzten das Angebot, vom Küchentisch aus Unterstützung zu holen: »Für sie ist der Weg in eine Beratungsstelle ein zusätzlicher Kraftakt.«

Aber auch Menschen, die sich zuvor persönlich beraten ließen, schätzten die Möglichkeit, sich mitten in der Nacht das, was sie gerade belastet, von der Seele zu schreiben. »Vielleicht hat das für sie eine ähnliche Funktion wie das Tagebuchschreiben«, spekuliert Ramming. In diesen Mails geht es der Psychologin zufolge zum Beispiel um einen schlimmen Streit mit dem Ehemann, um den Trotzanfall eines Kindes oder um die soeben eingetroffene Nachricht, dass die Oma gestorben ist. Um Menschen in solchen Krisensituationen gut virtuell aufzufangen, ist laut Ramming eine fundierte Ausbildung in Online-Beratung unabdingbar.

Die Evangelische Beratungsstelle des Diakonischen Werks Augsburg begann 2011 mit der Onlineberatung als eigenständigem Hilfeangebot. 2016 nutzten 99 Klienten diesen Service. »Viele schreiben außerhalb der Öffnungszeiten Fragen oder bitten um Hilfe«, sagt die Psychologische Beraterin Christa Röger-Emerich. Teils werde auch einfach nachgefragt, ob man mit seinem Anliegen in der Beratungsstelle überhaupt richtig ist: »Für manche ist der Schutz der Anonymität auch wichtig, um schamfrei über ein als schwierig empfundenes Thema zu sprechen.«

Hilfe im Netz als erste Krisenhilfe

Die Beratungsstelle für Schwangerschaftsfragen des Evangelischen Beratungszentrums München bietet seit über zehn Jahren Online-Beratung an. Nicht selten wird das virtuelle Angebot als erste Krisenhilfe genutzt, erzählt Einrichtungsleiterin Sabine Simon: »Zum Beispiel bei einer ungeplanten oder verdrängten Schwangerschaft.« Oder auch, wenn die Schwangere Gewalt von ihrem Partner erfuhr. Für Simon ist die Online-Beratung wichtig, um auch Menschen zu helfen, die sich schwer tun, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Allerdings sieht die Sozialarbeiterin auch kritische Punkte.

»Die persönliche oder telefonische Beratung ist aus unserer Sicht fast immer vorzuziehen, denn Mailberatungen bringen Zeitverzögerungen mit sich«, sagt sie.

In der Beratungsstelle hat man außerdem die Erfahrung gemacht, dass Online-Beratung viel Zeit verschlingt. Gerade rechtliche Auskünfte seien aufwendig. Oft müsse man sich mehrmals rückversichern, ob man ein Anliegen richtig verstanden hat und die Auskunft richtig aufgenommen wurde. »Auch bei anderen Beratungsinhalten ist die Gefahr des Missverständnisses, der Irritation oder Kränkung durch einzelne Formulierungen hoch«, sagt Simon. Zu erkennen, dass sich das Gegenüber im Mailkontakt nicht richtig verstanden gefühlt hat und das Missverständnis aufzulösen, benötige viel mehr Zeit als in der telefonischen oder persönlichen Beratung.

Internet kann direkten Kontakt oft nicht ersetzen

Darüber hinaus bleibe es etwa in der Konfliktberatung für Frauen, die über eine Abtreibung nachdenken, rein rechtlich ohnehin unverzichtbar, dass die Schwangere nach einem ersten Online-Kontakt auch einen Vor-Ort-Termin vereinbart. In Würzburg beschloss das Team der Schuldnerberatung der ökumenischen Christophorus-Gesellschaft, testweise eine Online-Beratung einzuführen. Sie bietet Klienten die Möglichkeit, ihre Fragen ohne Wartezeit loszuwerden, erläutert Einrichtungsleiterin Nadia Fiedler. Aber auch die Berater hätten Vorteile von einem virtuellen Erstzugang: »Man kann sich die Zeit freier einteilen und hält keine unnötigen Zeitfenster offen für Klienten, die unentschuldigt nicht auftauchen.«

Online-Beratung ist nach Fiedlers Ansicht vor allem dann hilfreich, wenn ein Fall sehr komplex ist: »Man kann sich mit anderen Beratern noch mal kurzschließen, bevor man antwortet.« Ihr Team will ein halbes Jahr lang ausprobieren, ob die Online-Beratung unterm Strich eher positive oder eher negative Effekte zeigt. Der direkte Kontakt zu den Klienten, so Fiedler, dürfe auf keinen Fall verloren gehen.

 

Hilfe im Notfall

Wer über die Feiertage in Not gerät oder jemanden zum Reden braucht, findet in folgenden evangelischen Einrichtungen Hilfe:

Die Evangelische Telefonseelsorge ist rund um die Uhr unter der kostenlosen Telefonnummer (0800) 111 0 111 erreichbar, auch an Sonn- und Feiertagen.

Zudem hat die Bahnhofsmission, Hauptbahnhof Gleis 11, 24 Stunden und an allen Tagen im Jahr geöffnet.

Die ökumenische Krisen- und Lebensberatungsstelle Münchner Insel am Marienplatz/Untergeschoss ist an den Werktagen zwischen den Jahren für Ratsuchende offen: Montag bis Freitag 9 bis 18 Uhr, Donnerstag 11 bis 18 Uhr. Infos unter Tel. (089) 22 00 41.