Ich gehe auf die Sechzig zu und habe eine Schwester, die fünf Jahre älter ist. Leider haben wir in den letzten 30 Jahren sehr den Kontakt verloren. Wir gratulieren uns noch zu den Geburtstagen und schicken uns traditionelle Weihnachtswünsche, aber das ist schon alles. Mich hat das immer wieder mal beschäftigt, aber in diesem Jahr empfinde ich deutlich ein Defizit, ja, ein richtig schlechtes Gewissen.
Ich erinnere mich an eine Kindheit, in der wir uns gut vertragen und gern miteinander gespielt haben. Sicher, sie war immer die Große und ich der Kleine, aber neben gelegentlichen Rivalitäten und Eifersüchteleien gab es da nichts Dramatisches zwischen uns.
Irgendwann einmal tauchten dann Freunde auf. Meine Schwester ging öfter weg und ein paar Jahre später zog sie zum Studium in eine andere Stadt. Sie heiratete, bekam einen Hut voll Kinder und war sicherlich ordentlich beschäftigt. Mir ging es ähnlich, vielleicht nicht ganz so geradlinig.
Heute scheinen wir beide wieder größere Freiräume zu haben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir neu aufeinander zugehen, bin dabei aber ziemlich unsicher.

Herr F.

Das, was Sie erleben, geschieht gar nicht so selten. Oft fühlen sich Geschwister in der Kindheit nahe. In der Pubertät beginnt sich diese Nähe langsam aufzulösen, und jeder geht so seine Wege. Berufsausbildung, Partnerwahl und Familiengründung füllen uns aus. Wenn wir dann älter werden, wächst ein neues Interesse füreinander.

Vielleicht können Sie sich angesichts dieser »Normalität« weniger vom schlechten Gewissen und mehr von der Neugier leiten lassen. Die Beziehung zu einem Geschwister ist die längste Beziehung in unserem Leben, und es wäre doch aufregend herauszufinden, was sich bei Ihnen da bisher alles ereignet hat.

Eine zweite Entlastung: Sie nehmen vom Weihnachtsfest vor allem die Aufforderung zur Nähe auf. Aber zunächst einmal heißt doch die Nachricht: Ein Kind wird geboren, und mit diesem Kind kommt etwas Neues zur Welt. Eine neue Möglichkeit auch, mit sich selbst und mit anderen umzugehen.

Von daher ist es doch vorstellbar, dass Sie in diesem Jahr Ihre Weihnachtswünsche ganz persönlich formulieren. Ich wünsche mir, das höre ich Sie jedenfalls sagen, dass auch zwischen uns etwas Neues geboren wird. Dass wir ein bisschen Zeit miteinander finden. Dass wir einander erzählen, was wir so erlebt haben und was aus uns geworden ist. Wenn Sie dies so einladend und freundlich wie möglich aussprechen, also nicht fordernd, nicht bedrängend, dann wird es sicher nicht ohne Echo bleiben.

Die Erfahrung zeigt, dass Geschwister im Erwachsenenalter, auch nach einer längeren Kontaktunterbrechung, zu Freunden werden können. Dass es zu einem neuen gegenseitigen Wohlwollen, zu einem versöhnten Erinnern, in dem alte Eifersüchteleien und Rivalitäten ausheilen. Auch bei Ihnen könnte doch ein neues Miteinander entstehen, in dem Sie nur noch mit Schmunzeln an die alten Zuordnungen denken. Denn ab jetzt würde es heißen: Groß und klein, klein und groß, das gehört doch zu uns beiden. Einmal so und einmal so.