Der katholische Theologe Karl Rahner schrieb 1971: "Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die … selbstverständliche öffentliche Überzeugung … aller mitgetragen wird". Er sollte Recht behalten. Insbesondere im christlichen "Abendland" werden die Kirchen immer leerer. Die traditionellen Dogmen und Konzepte leuchten immer weniger ein. Das Interesse an vielen Formen christlicher und außerchristlichen Mystik nimmt hingegen zu.

Viele Suchende haben insbesondere aufgrund östlicher Methoden (wie Yoga oder  ZEN-Meditation) eine religiöse Bewusstseinserweiterung erlebt. Nicht wenige von ihnen haben gefragt, ob Schätze der Meditation und Mystik wirklich nur im Osten zu heben sind. Dabei sind manche auf Texte und Übungswege gestoßen, die es auch im Christentum immer als Unterströmung gegeben hat, die oft von den religiösen Institutionen beargwöhnt oder gar verfolgt wurden und in Vergessenheit gerieten.

Der Begriff "Mystik"

Der Ausdruck geht auf das altgriechische Wort mystikós ("geheimnisvoll") oder auf myein ("Mund und/oder Augen schließen") zurück. Es geht um geheimnisvolle Erfahrungen, die sich einstellen können, wenn die äußeren Sinne zurücktreten und sich der Mensch nach innen wendet. Dabei geht es nicht um ein Nachdenken über Gott als vielmehr um ein inneres Spüren und Ausschau halten. In monotheistischen Religionen ist mystische Erfahrung Gotteserfahrung, Einswerden mit Gott als dem Urgrund des Seins und der Seele, als "innerstes Innen" (Augustinus) oder – in den orthodoxen Kirchen des Ostens - "Schau des ungeschaffenen Taborlichts". In seinen Lebensbekenntnissen ("Confessiones") schreibt Augustinus:

Spät habe ich dich geliebt, du Schönheit, ewig alt und ewig neu; spät habe ich dich geliebt. Du warst in meinem Innern; ich aber suchte dich draußen. Hässlich und missgestaltet warf ich mich auf das Schöngestaltete, das du geschaffen hast. Du warst bei mir, ich aber war nicht bei dir. Was von dir so lange mich fern hielt, waren Dinge, die doch gar nicht existieren würden, wenn sie nicht in dir wären. Du aber hast mich gerufen, immer lauter, und meine Taubheit zerrissen. Dein Licht ging mir auf, und immer strahlender hast du geleuchtet und meine Blindheit verscheucht. Ich habe dich geschmeckt, und nun hungere und dürste ich nach dir. Du hast mich angerührt, da bin ich entbrannt in Sehnsucht nach deinem Frieden.

Muslimische Mystiker machen Einheitserfahrungen beim Drehtanz der Derwische oder bei der Rezitation des Namens Allah oder der 99 schönsten Gottesnamen ("dikr"). Hindus berichten über Erfahrungen, die den Berichten christlicher Mystiker sehr ähneln. Traditionen wie der Buddhismus, die auf das Konzept eines personalen Gottes verzichten, schildern mystische Erfahrungen zum Beispiel als Leere, die zugleich tiefes Eins-Sein ist, oder als Erleuchtung ("Satori"). Der mystische Erfahrungsweg, der sich in allen Religionen ähnelt, führt häufig zu mehr interreligiöser Toleranz und Weite und zur Bereitschaft, von den Wegen anderer zu lernen. Dabei treten die Streitfragen eher zurück.

 

Bibel und christliche Tradition

Schon in der Bibel, zum Beispiel in den Psalmen und insbesondere im Neuen Testament, wird zur inneren Erfahrung und zur Gottesschau jenseits von Riten, Konzepten und Traditionen eingeladen: "Selig sind, die ein reines Herz haben. Denn sie werden Gott schauen" (Matthäus 5,8); "Gott ist Geist; und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten" (Johannes 4,24). Immer wieder wird im NT das "Einwohnen" Gottes bzw. Christi im Herzen hervorgehoben. Paulus spricht von überwältigenden eigenen mystischen Erfahrungen. Eine Christusvision hat aus dem Verfolger Christi den glühendsten Missionar des Christentums gemacht.

Bei den Kirchenvätern der frühen Christenheit finden sich zahlreiche Bilder und Hinweise auf die Erfahrungsdimension des Glaubens. Dabei greifen sie nicht nur auf die Bibel zurück, sondern auch auf die griechische Philosophie, insbesondere den Neuplatonismus. Dort wird die äußere materielle Welt häufig abgewertet und von der geistlichen Innenwelt getrennt, während die Bibel die sichtbare und die unsichtbare Welt als zwei Aspekte der Einen Wirklichkeit zugleich unterscheidet und verbindet.

In den Klöstern des Mittelalters, nicht zuletzt in den Frauenorden, blüht die Mystik auf – auch als Gegenbewegung zur ausufernden wissenschaftlichen Rationalität der Universitäten, ihrer Streitereien und Spitzfindigkeiten. Die mystische Theologie greift dabei vor allem auf die "Negative Theologie" des Dionysius Areopagita zurück, der von der Unerkennbarkeit Gottes für die Vernunft gesprochen hatte. Der Franziskaner Johannes Bonaventura, "Fürst unter allen Mystikern", unterscheidet eine mit den fünf inneren, geistlichen Sinnen erfahrbare Wirklichkeit von einem rein lehrhaften theologischen Wissen. Dabei gibt es auch innerhalb der mittelalterlichen Mystik zwei deutlich unterscheidbare Stränge: eine mehr intellektuelle Tradition (Meister Eckhard, Nikolaus von Kues) und eine stärker affektiv-emotionale – besonders in der Frauenmystik, in der die Gotteserfahrung geradezu erotische Züge annehmen kann.

Der Protestantismus hatte meist eine zwiespältige bis ablehnende Haltung zur Mystik. Der junge Luther begeisterte sich zwar für den Mystiker Johannes Tauler und für eine anonyme mystische Schrift, die er fast der Bibel gleichstellte und unter dem Titel "Eine Theologia Deutsch" zweimal herausgab. Seine eigene Theologie lebte aus der Erfahrung der bedingungslosen Gnade Gottes. Die Lektüre des Römerbriefes hatte dieses Befreiungserlebnis in seiner angefochtenen Seele bewirkt. Erfahrung, vor allem auch die Erfahrung des Leidens und der Anfechtung, nicht Lesen und Studieren, macht einen Theologen seiner Meinung nach aus. Dennoch – und aufgrund seiner eigenen Biographie - misstraute er jedem religiösen Erleben, das nicht unmittelbar an die Heilige Schrift gekoppelt war. Alle, die von dieser Sicht abwichen, verteufelte er als "Schwarmgeister". Das hat den Protestantismus – mit einigen Ausnahmen wie Gerhard Tersteegen oder Jakob Böhme - lange geprägt. Erst Ende des 20. Jahrhunderts setzte auch im evangelischen Bereich eine Neuentdeckung der Mystik ein (Gerhard Wehr, Jörg Zink, Dorothee Sölle).

In unserer Serie gehen wir auf Spurensuche – dabei liegt der Schwerpunkt auf der christlichen Mystik; wir werden aber auch vergleichbare Erfahrungen anderer Religionen kennen lernen und würdigen. Sie, liebe Leserinnen und Leser, dürfen sich auf viel Überraschendes und Neues freuen und, wie wir hoffen, in Ihrer eigenen Glaubenspraxis davon profitieren. In Abwandlung eines Wortes von Joseph Beuys: "Jeder Mensch ist ein Künstler" kann man mit Fug und Recht sagen: "Jeder Mensch ist ein Mystiker". Kinder vor allem. Erwachsene haben das häufig vergessen. Die Schatzsuche lohnt sich.

Buchtipp

Mystiker – der innere Weg zu Gott

ISBN 978-3-583-20910-7, Paperback, DIN A4, 168 Seiten, 4-farbig, 1. Auflage November 2018