Der große deutsche Theologe Karl Rahner hat einmal gesagt: "Der Christ der Zukunft ist ein Mystiker, er ist einer, der Gott erfahren hat." Rahner meint mit diesem oft zitierten Wort, dass es nicht genügt, an Gott zu glauben. Der Christ der Zukunft, der für seinen Glauben Rechenschaft ablegen will, braucht die Erfahrung des Glaubens, er braucht die Erfahrung Gottes. Denn ohne Gotteserfahrung können wir in dieser säkularisierten Welt nicht von Gott sprechen. Dann würden unsere Worte über Gott hohl klingen. So möchte ich mich in dieser kurzen Einführung in die Mystik an die Gedanken von Karl Rahner halten.

Rahner folgt in seiner Beschreibung der Mystik der Definition, die Thomas von Aquin gegeben hat. Thomas definiert Mystik als "cognitio Dei experimentalis", also um ein Erkennen Gottes, das auf Erfahrung beruht, oder ein Erkennen Gottes, das zugleich mit der Erfahrung Gottes verbunden ist. Die Menschen sehnen sich heute danach, Gott zu erfahren. Sie begnügen sich nicht mehr mit Worten über Gott.

Einführung in die Mystik: Kirche als Raum der Glaubenserfahrung

Die Kirche hat die Aufgabe, Räume der Gotteserfahrung anzubieten, aber zugleich auch Wege aufzuzeigen, wie wir uns dem unbegreiflichen Gott nähern können. Und sie hat die Aufgabe, die spirituellen Erfahrungen, die Menschen heute machen, zu deuten. Daher braucht es immer auch die theologische Reflexion, damit mystische Erfahrungen nicht dazu missbraucht werden, sich über andere Menschen zu stellen oder sie absolut zu setzen als Offenbarung Gottes, der auch andere folgen müssten. Es sind immer subjektive Erfahrungen Gottes, für die wir dankbar sein dürfen. Wir dürfen sie auch mit anderen teilen, aber – so wie es die wahren Mystiker immer getan haben – in aller Demut und Bescheidenheit, mit dem Wissen, dass Gott immer das unbegreifliche Geheimnis bleibt und seine Liebe unaussprechlich und unendlich ist.

Karl Rahner: Mystik hat mit Jesus zu tun

Wenn Karl Rahner von Mystik schreibt, dann bezieht er sich immer auf die christliche Mystik. Und die ist für ihn wesentlich mit der Person Jesu Christi verbunden. Mystik ist für Rahner nichts Abgehobenes, sondern der Weg, in der Beschäftigung mit dem Leben Jesu, mit seinen Worten und Taten, mit seiner Passion, seinem Tod und seiner Auferstehung, sich immer wieder hinein nehmen zu lassen in das unbegreifliche Geheimnis der Liebe Gottes. Rahner ist Jesuit. Daher versteht er mit seinem Ordensgründer Ignatius von Loyola Mystik als "Gottfinden in allen Dingen". Für ihn bedeutet Mystik, die Erfahrungen des Alltags auf Gott hin zu öffnen, in allem, was uns im Alltag begegnet, Gottes geheimnisvolle Gegenwart wahrzunehmen.

Christliche Mystik: Gotteserfahrung im Alltag

So will christliche Mystik gerade im Umgang mit der Welt uns aufbrechen für den Gott, der immer zugleich in der Welt und jenseits der Welt ist als das unbegreifliche Geheimnis, das uns in allem, was wir tun, umgibt. Für Rahner bedeutet Mystik letztlich: Gott, das unbegreifliche Geheimnis erfahren. Ich erfahre Gott in den alltäglichen Begegnungen mit Menschen, in der Treue des Alltags, aber auch in besonderen Transzendenzerlebnissen, die ich in der Stille, in der Meditation, im Gottesdienst, in der Natur machen darf.

Und ich erfahre Gott nicht nur außen, sondern auch innen. Gott ist mir innerlicher als ich selbst, hat Augustinus gesagt. Für die Kirchenväter der frühen Kirche ist es klar, dass Gott in uns wohnt. Und dort, wo Gott in uns wohnt, kommen wir in Berührung mit dem wahren Selbst. Dort, wo das Geheimnis Gottes in uns wohnt, können wir auch in uns selbst daheim sein. Solche Erfahrungen können nicht herbeigeführt werden. Wir können uns durch den spirituellen Übungsweg dafür nur öffnen. Doch die Erfahrung Gottes ist letztlich immer Geschenk seiner unbegreiflichen Gnade.

Anselm Grün: Gott ist in mir

Ganz gleich, wie wir Mystik definieren, es geht immer um eine Erfahrung Gottes. Sie muss nicht außergewöhnlich sein. Sie kann auch in einem kurzen Augenblick geschehen, in dem Gottes Wort mich anrührt, mir ins Herz fällt, in der Gottes Liebe mein Herz erfüllt, in dem mir die Augen aufgehen und ich für einen Augenblick in den Grund allen Seins schaue und mein Ego, das alles beurteilen möchte, vergesse.

Ich bin einfach nur da, eins mit mir, eins mit dem Grund, eins mit Gott, der mich mit seiner Liebe einhüllt und durchdringt. Mystik ist nicht Weltflucht, sondern die Erfahrung Gottes mitten in der Welt. Sie ist die Erfahrung Gottes, der die ganze Welt mit seinem Geist durchdringt, aber zugleich auch die Erfahrung Gottes, die wir gerade dann machen, wenn wir uns innerlich von der Welt getrennt haben - wenn nicht mehr die Welt uns bestimmt, sondern Gott.