Gott ist Mensch geworden. Dieser schlichte Satz beschreibt wie kaum ein anderer den Grundgedanken der christlichen Heilsbotschaft. Vermutlich ist Weihnachten deshalb zum beliebtesten Fest der Christenheit aufgestiegen, obwohl die Kar- und Ostertage theologisch betrachtet bedeutender sind.

Jedes Jahr im Advent bereiten wir uns innerlich auf dieses Ereignis vor. Und jedes Jahr an Weihnachten feiern wir aufs Neue, dass Gott menschliche Gestalt annahm und mitten in diese Welt trat. Weihnachten ist das Geburtstagsfest Jesu. Der 25. Dezember als Festtag lässt sich aber erst seit dem 3./4. Jahrhundert nach Christus nachweisen, denn in den ersten Jahrhunderten feierten die Christen vor allem Ostern.

Göttliche Geburt aus dem eigenen Herzen

Wenn wir dieses Jahr wieder am 25. Dezember in unseren Familien und in den Gemeinden die Gottesgeburt Jesu feiern, ist uns in den seltensten Fällen bewusst, dass wir heute einen wesentlichen Aspekt des Weihnachtsfests aus dem Blick verloren haben.

In der antiken und mittelalterlichen Kirche wurde an Weihnachten nämlich nicht nur die göttliche Geburt aus dem Vater und die fleischliche aus der Mutter, sondern auch die geistige aus dem eigenen Herzen gefeiert. Übertragen bedeutet dieser letzte Teil nichts anderes, als dass Gott sich im Herzen eines jeden Gläubigen gebiert, eine Vorstellung, die viele Christen heute irritiert. Doch hierbei handelt es sich wie gesagt um eine sehr alte Tradition innerhalb des Christentums, die wir bis in die Zeit der Kirchenväter ins 2./3. Jahrhundert zurückverfolgen können.

Der Mensch soll selbst Sohn Gottes werden       

In der frühen Tradition der Kirchenväter waren die christlichen Theologen davon überzeugt, dass Gott Mensch geworden sei, damit der Mensch selbst Sohn Gottes werde. So heißt es bei Irenäus von Lyon, einem bedeutenden Theologen des 2. Jahrhunderts: "Dazu nämlich ist das Wort Gottes zu uns gekommen und Mensch geworden und der Sohn Gottes zum Menschensohn, damit der Mensch das Wort Gottes in sich aufnehme und, an Kindes statt angenommen, zum Sohne Gottes werde."

Die Geburt Gottes in Menschengestalt dient demnach nur einem Zweck: dass wir dieses Ereignis in uns lebendig machen und uns so von Gottes Liebe berühren lassen, damit wir selbst zu diesem Sohn werden.

Bischof Irenäus bildet mit seiner Interpretation des Ereignisses der Gottesgeburt keine Einzelmeinung. Wir finden auch bei anderen bedeutenden Theologen der ersten Jahrhunderte Stellen, die eine ganz ähnliche Haltung zeigen. Dass diese Lehre keine Erfindung dieser Theologen war, sondern an die biblische Tradition anknüpft, zeigt ein Blick in den Galaterbrief 2,20, wo Paulus erklärt: "Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir." Die Vorstellung, dass Christus in jedem einzelnen Gläubigen lebt, ist ein Grundgedanke der paulinischen Theologie. Paulus selbst griff in seiner Lehre wiederum die urjesuanische Aussage von der Gotteskindschaft aller Menschen auf. Ein jeder von uns ist Kind Gottes. Diese äußerst befreiende und heilvolle Lehre wurde im Lauf der folgenden Jahrhunderte leider durch die Erbsündenlehre überlagert.

Christliche Mystik     

Die Lehre von der Gottesgeburt in der Seele eines jeden Gläubigen wurde in der christlichen Mystik noch einmal stark gemacht. Den Mystikern und Mystikerinnen ging es dabei nicht um das Erleben eines Gefühlsrauschs, wenn sie von der Gottesgeburt im Seelenfunken sprachen, sondern darum, im eigenen Leben zu erfahren, was es heißt, durch und durch in und aus Gott neu geboren zu werden. Die Voraussetzung dafür, dass die je individuelle Geburt Gottes im Seelenfunken stattfinden kann, war natürlich die Geburt Gottes als Mensch in der Person Jesu.

In den Augen der Mystiker ist es Gottes ureigenster Wunsch, sich in jedem Menschen selbst zu gebären. Dennoch ist nicht jeder Mensch in der Lage, die Bedingungen, die dafür notwendig sind, zu schaffen. Dies hängt damit zusammen, dass die Gottesgeburt kein Ereignis ist, das sich im Menschen vollzieht, ohne dass dieser daran einen Anteil hätte. Ob wir diese Geburt in unserem innersten Seelenfünklein erfahren, hängt davon ab, ob wir dafür auch bereit sind. Hier haben die Mystiker von der frühen Zeit der christlichen Wüstenväter in Ägypten bis in die Neuzeit hinein immer betont, dass es Aufgabe des Menschen sei, sich dafür vorzubereiten.

Die Seele als Gefäß für Gott

In der Wüstenvätertradition gibt es für diese Aufgabe des Menschen ein schönes Bild. Der Mensch muss das Gefäß, nämlich seine Seele, in das sich Gott ergießen soll, leeren und reinigen, denn in einen bereits gefüllten Krug passt nichts mehr hinein. Das, was den Krug randvoll gefüllt hat, ist der menschliche Eigenwille und alles, was ihn von Gott fernhält.    

Um dieses Gefäß der menschlichen Seele zu reinigen, empfahlen fast alle großen Mystiker und Mystikerinnen den Weg der inneren Stille und Kontemplation. Meister Eckhart, einer der bedeutendsten Vertreter der Lehre der Gottesgeburt, nannte diese innere Stille oftmals die Abgeschiedenheit. Das Faszinierende an seiner Vorstellung von der Abgeschiedenheit ist, dass sie an keine räumliche Gegebenheit gebunden ist. Ein Bauer auf dem Feld kann in die gleiche innere Abgeschiedenheit gelangen, wie der Mönch oder die Nonne in ihrer Klosterzelle, da es sich hier um eine innere Haltung handelt.

Stille und Abgeschiedenheit

Die Haltung der Stille oder Abgeschiedenheit ist das Mittel, mit dem das Seelengefäß gereinigt wird, damit sich Gott darin ergießen kann. Doch der Mensch bewirkt diese Geburt nicht, dies tut Gott selbst, wie Johannes Tauler, einer der großen mittelalterlichen Mystiker, in einer seiner Predigten ausdrücklich betont: "Dann wird Gott sicher kommen, er wird in dir geboren werden. Aber wann? Das überlass ihm; bei einigen in ihrem Alter, bei anderen in ihrer Todesstunde, das befiehl ihm!" Bei der Gottesgeburt geht es ganz wesentlich nicht ums Tun, sondern ums Lassen, um das Loslassen von allen selbstischen Bezügen, die den Menschen von Gott trennen.

Aus unserer Sicht mag die Tatsache, dass Gott sich in jede individuelle Seele stets aufs Neue gebären will, wie eine große Gnade erscheinen, doch in der Wahrnehmung der Mystiker ist es Gott selbst, der sich förmlich danach sehnt, diese Geburt im menschlichen Seelenfunken zu erleben. Bei Meister Eckhart heißt es in einer seiner Predigten: "Es ist Gott wertvoller, dass er geistig geboren werde von einer jeglichen Jungfrau oder von einer jeglichen guten Seele, als dass er von Maria leiblich geboren werde."

Weihnachten: eine dreifache Geburt

Erinnern wir uns daran, dass in den ersten fünfzehnhundert Jahren des Christentums Weihnachten immer unter dem Gedanken einer dreifachen Geburt, der göttlichen aus dem Vater, der fleischlichen aus der Mutter und der geistigen aus dem eigenen Herzen, gefeiert wurde. Unter dieser Voraussetzung erscheint Eckharts Aussage gar nicht mehr so kühn. Wenn alle Menschen Kinder des himmlischen Vaters sind, dann ist es Gottes Wonne, sich in seinen Kindern stets aufs Neue zu gebären. Es freuen sich nicht nur die Menschen darüber, dass Gott Mensch geworden ist, sondern Gott freut sich, wenn seine Geburt Platz findet in einer jeden menschlichen Seele. Eine Vorstellung, die dem zentralen Gedanken der christlichen Lehre, dass es um das Heil des Menschen geht, sicherlich näher kommt, als die Vorstellung, Gott wolle nur unsere Verdammnis.

Worum es den christlichen Mystikern wesentlich ging, war die persönliche Erfahrung dieser Geburt. Wer diese in der eigenen Seele nicht erlebt, kennt Gott nämlich nur vom Hörensagen, so fromm er auch sein mag. Oder noch radikaler formuliert: "Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren."

Gott persönlich erfahren

Die Geburt Jesu hat keinen Nutzen für den Menschen, solange sie nicht in ihm selbst passiert, davon war nicht nur Angelus Silesius überzeugt, der diese Zeilen niederschrieb, sondern auch Meister Eckhart. Die konkrete Begegnung mit Gott ist das zentrale Element der Gottesgeburt, weil sie das wahre Wesen des Menschen, nämlich die Gottesebenbildlichkeit, hervortreten lässt. In der Gottesgeburt vollzieht sich jesuanisch gesprochen der Anbruch des Gottesreichs mitten unter uns, mitten im Hier und Jetzt. Und deshalb ist auch die Gottesgeburt ein nie endender Prozess, weil das Gottesreich selbst ewig ist.