Zum 60. Jahrestag des Hitler-Attentats am 20. Juli 2004 sind zahlreiche Filme und Bücher erschienen. Mit Joachim Scholtyseck, Professor am Historischen Seminar der Universität Bonn, sprach Rieke C. Harmsen über die Forschungserkenntnisse der letzten Jahre.

Hat sich das Bild des 20. Juli 1944 verändert?

Scholtyseck: Die vielen Publikationen und Medienberichte zeigen, dass das Interesse am Widerstand nicht abflaut. Dass der Stauffenberg-Film in diesem Frühjahr ein Millionenpublikum vor die Bildschirme gebracht hat, ist verwunderlich. Denn in dieser Spaßgesellschaft erwartet man zunächst nicht, dass ein historisches Thema mit tragischen Aspekten die Menschen nach wie vor so stark in ihren Bann zieht. Das alles zeigt: Die Geschichte des Widerstands ist nicht in Vergessenheit geraten, sondern beschäftigt die Menschen in Deutschland immer noch.

Das Bild des 20. Juli ist ausgesprochen schillernd, die Rezeption hat sich dabei sehr verändert. In den 50er Jahren galten viele der Verschwörer vom 20. Juli als Verräter. In den sechziger Jahren, verstärkt noch im Zuge der 68er Revolte, wuchs die Kritik an den Männern des 20. Juli, weil gesagt wurde, dass sie keine demokratische Ziele verfochten und ganz in der preußischen Militärtradition gestanden hätten. Seit den 80er Jahren gibt es ein relativ unangefochtenes Bild der Männer des 20. Juli 1944, nicht als ein unantastbares Denkmal, aber durchaus mit heldenhafte Zügen. Das ist etwas Positives für die deutsche Geschichte und ein ganz wichtiger und zentraler Aspekt der Forschung.

Was hat sich in den letzten zehn Jahren in der Forschung getan?

Scholtyseck: Der Widerstand gehört zu den am Besten erforschten Feldern der deutschen Geschichte überhaupt. Große Neuentdeckungen sind daher nicht zu machen. Nach dem Fall der Mauer hatte man noch angenommen, dass in Moskauer Archiven eventuell Dokumente zu entdecken sind, die wesentliche Aspekte berühren könnten. Das hat sich aber nicht bewahrheitet. Unser Bild vom Widerstand, wie es vor zehn Jahren gezeichnet worden ist, muss sich nicht grundlegend ändern. Es geht vielmehr um Neubewertungen.

In der Forschung sind regionale Perspektiven stark in den Vordergrund getreten. Es gibt eine Fülle von Einzeluntersuchungen, die sich beispielsweise mit dem Widerstand und dem 20. Juli in Mecklenburg oder Baden-Württemberg beschäftigen. Zum anderen hat man sich in den letzten Jahren sehr viel stärker mit der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur beschäftigt. Die Forschung fragt beispielsweise, wie der Widerstand interpretiert worden ist. Auch die vergleichende Forschung ist mehr in den Vordergrund getreten. Das 20. Jahrhundert war nach Eric Hobsbawm das "Age of Extremes", das Jahrhundert der Extreme. Das hat dazu geführt, das die Forschung den Widerstand nun auch in anderen Diktaturen in den Blick nimmt. Gefragt wird beispielsweise, was der Widerstand gegen Hitler mit dem Widerstand gegen das Ulbricht- oder das Honecker-Regime gemein hat. Schließlich haben die Untersuchungen zu Einzelpersonen und dem Umfeld des 20. Juli und die Forschungen zur Wehrmacht zugenommen.

Wo gibt es noch Lücken in der Forschung?

Scholtyseck: An das Thema "Widerstand und das Verhältnis zum Judentum" traut sich die Forschung nur relativ schwer heran. Auch über die Frauen im Widerstand könnte noch gearbeitet werden, allerdings ist hier in den letzten Jahren schon einiges geschehen. Notwendig wäre eine umfassende Gesamtdarstellung auf dem Stand der neuesten Forschung. Denn die letzten großen Gesamtdarstellungen von Joachim Fest oder Peter Hoffmann sind nicht mehr so ganz frisch.

Eine Gefahr sehe ich darin, dass das Verständnis für die Schwierigkeiten der Männer vom 20. Juli 1944 bei einer jüngeren Generation immer stärker nachlässt. Dann werden vorschnell Schlüsse gezogen und Verdammungsurteile gefällt. Die Forschung müsste vielleicht mehr darauf hinweisen, dass die Männer in einer Situation gehandelt haben, in die sich heute kaum noch jemand versetzen kann.

Können wir aus dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 etwas lernen?

Scholtyseck: Ich glaube, wir machen es uns zu leicht, wenn wir sagen, wir können etwas für unsere Gesellschaft draus lernen. Denn dabei vergisst man relativ schnell, unter welchen Bedingungen diese Männer in einem totalitären Regime gehandelt haben. Sie hatten Angst, sie waren einer ständigen Verfolgung ausgesetzt, es war eine völlig andere Situation als in unserer behüteten Demokratie heute. Diese Situation auf die heutige Bundesrepublik zu übertragen, fällt schwer. Was man sagen kann: Es war wichtig, dass es Männer gab, die die Frage der Moral hochgehalten haben und das Recht wieder zur Geltung lassen wollten. Dieser moralische Anspruch kann auch für uns Vorbildcharakter haben. Auch, dass es Persönlichkeiten waren, die sich nicht über einen Kamm scheren lassen, sondern Einzelfiguren, die ganz allein gegen ein brutales terroristisches Regime aufgestanden sind. Es geht darum, sich nicht vereinnahmen zu lassen, sondern auf das eigene Gewissen zu horchen.