Ich lerne gerade in meiner Ausbildung zur Sozialpädagogin etwas über Gefühle. Lerne, dass Gefühle sein dürfen, und zwar alle Gefühle, dass sie Raum und Ausdruck brauchen. Dies ist für mich neu und aufregend. Als Kind habe ich so ziemlich das Gegenteil gelernt, nämlich dass es gute und schlechte Gefühle gibt, dass man zu den einen stehen und die anderen unterdrücken soll.

Ich wende mich an Sie, weil das Ganze bei uns auch eine religiöse Dimension hatte. Den treffendsten Ausdruck fand es in dem Wort "Klagen bringt Verzagen, Loben zieht nach oben". Es war ein Standardspruch in unserer Familie, der immer dann zitiert wurde, wenn es irgendwo eine Traurigkeit oder Enttäuschung oder dergleichen gab. Lass dich nicht gehen, hieß es dann, du weißt doch, Klagen bringt Verzagen...

Ich verdanke meinen Eltern viel an hilfreicher religiöser Orientierung. Vieles lief zu Hause einfach sehr gut und hat mich auf eine feine Art für das Leben vorbereitet. Aber dieses "Klagen bringt Verzagen"-Ding erscheint mir mehr und mehr fragwürdig.

Frau M.

Zu Recht. "Klagen bringt Verzagen, Loben zieht nach oben", das kann man zu jemandem sagen, der sich im Jammern eingerichtet hat und sich dabei wundert, dass es ihm nicht gut geht. Hier mag es wie ein Weckruf wirken: Hallo, du steckst fest und gerätst immer tiefer ins Elend. Probier doch mal was anderes, Loben zum Beispiel.

Aber als allgemeiner Glaubenssatz taugt dieses "Ding" gar nicht. Warum nicht? Weil es dazu verleitet, wichtige Gefühle wie Traurigkeit, Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung zu unterdrücken bzw. frömmelnd zu überspielen. Und das schadet unserer Seele.

Nicht umsonst besteht der Psalter, das Gebet- und Gesangbuch Jesu, zu einem guten Teil aus Klagepsalmen. Oft ist es ein einzelner Mensch, aber manchmal schreit auch das Volk als Ganzes zu Gott. Ein "Exerzitium der Ehrlichkeit" hat man diese Psalmen einmal genannt. Sie ermutigen uns, vor Gott und vor uns selbst aufrichtig zu sein.

Und so kommen sie zu Wort, die Schwachen, die Kranken, die Armen, die Verfolgten, die Entrechteten. Ihr Schmerz, ihr Elend, ihre Enttäuschung, ihr Verletztsein findet Raum. "Ich bin wie die Eule in der Einöde, wie das Käuzchen in den Trümmern", heißt es etwa ganz ergreifend im 102. Psalm, "ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dach." Die meisten dieser Klagepsalmen schließen übrigens mit einem Lob oder Dank oder Ausdruck des Vertrauens. So als ob Lob und Dank und Vertrauen manchmal durch eine Klage hindurch - hindurch und nicht daran vorbei! - müssten, ehe sie laut werden können und an Kraft gewinnen.

Zusammenfassend: Zu den Herausforderungen unseres Erwachsenwerdens gehört es, das zu überprüfen, was wir einmal gelernt haben. Daraufhin, ob es dem Leben dient, ob es Leben ermöglicht oder eher unterdrückt. Die Bibel selbst stellt uns diese Aufgabe: "Prüfet alles und das Gute behaltet". (1. Thessalonicher 5, 21) Es nimmt der Wertschätzung und Dankbarkeit für Ihre Eltern nichts weg, dass Sie sich an dieser einen Stelle weiterentwickelt haben.