Der evangelische Diakon Peter Klentzan leitet das Traumahilfezentrum der Stiftung Wings of Hope in Ruhpolding. Im Sonntagsblatt-Interview erklärt der Traumatherapeut, warum es wichtig ist, den Flüchtlingen einen guten Start in Deutschland zu ermöglichen - und sie nicht seelisch kränker zu reden, als sie wirklich sind.

Viele Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind traumatisiert. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch wird von zehn bis dreizehn Prozent ausgegangen. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Klentzan: Es ist müßig über Zahlen zu sprechen. Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, haben eine sehr schwierige Situation erlebt. Sehr viele von ihnen werden es irgendwie schaffen, mit diesen traumatischen Situationen einigermaßen umzugehen und sie in ihr Leben zu integrieren. Wenn die Aufnahmebedingungen stimmen, dann werden sie lernen, mit dem Trauma zu leben. Sie verfügen über genügend Ressourcen und Selbstheilungskräfte. Sonst hätten Sie den Weg zu uns nach Deutschland gar nicht gewagt. Es sind im Regelfall die Stärksten und Durchsetzungsfähigsten, die das bewältigen. Sie werden es schaffen, ebenso, wie es die vielen Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft haben. Allerdings wird es auch eine Gruppe von Menschen geben, für die die Situation in den Flüchtlingsunterkünften in Deutschland eine akute Belastung bedeutet.

Wie äußert sich diese Belastung?

Klentzan: Die meisten Flüchtlinge haben eine sehr schwierige Flucht hinter sich. In den Unterkünften in Deutschland erleben sie nun aber häufig erneut eine schwierige Situation. Viele haben Schlafstörungen und sind deshalb tagsüber sehr müde und möchten sich ausruhen. Andere sind unruhig und immer unterwegs. Sie leiden an einer akuten Belastungsreaktion, die mit der Flucht und den akuten Überlebensbedingungen zusammenhängen. Manche von ihnen - und das ist im Regelfall die kleinere Gruppe - sind an einer so erheblichen Posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt, so dass eine spezielle Behandlung erforderlich wird. Diese Menschen leiden zum Beispiel an schweren Depressionen, machen sich massive Selbstvorwürfe, haben Panikattacken, sich immer wieder aufdrängende beängstigende Erinnerungen, Klaustrophobien, viel psychosomatische Erkrankungen, Alpträume, Schlafstörungen, schwere Depressionen bis hin zur Suizidalität.

Wie kann man diese traumatisierten Menschen unterstützen?

Klentzan: Am wichtigsten ist, dass die Menschen gut in Deutschland ankommen. Es muss uns gelingen, einen guten Start hinzubekommen. Die Flüchtlinge müssen das Gefühl bekommen, dass sie sicher sind, dass es vorwärts geht, dass wir sie brauchen und sie hier ihre Zukunft aufbauen können. Wenn diese Kultur der Integration gelingt, dann ist viel gewonnen. Die Flüchtlinge sollten so wenig wie möglich beschäftigungslos grübeln und den Selbstzweifeln nachhängen, sondern die Sprache lernen. Wir müssen die berufliche Integration tatkräftig vorantreiben und menschenwürdigen Wohnraum schaffen. Der muss dort geschaffen werden, wo es Arbeit gibt und Arbeitskräfte gesucht werden - nicht in der Prärie. Wenn die Ankunft und der Start aber erneut als Belastung wahrgenommen werden, dann kumulieren sich negative Gefühle. Das sollten wir vermeiden.

Wie schätzen Sie die derzeitige Situation ein?

Klentzan: Die Flüchtlinge aus den Krisengebieten und Kriegsregionen haben ein Recht auf Schutz. Wir dürfen die Flüchtlinge nicht kränker machen als sie sind. Die Menschen haben viel hinter sich gelassen und auf sich genommen für die Flucht. Gerade in Syrien sind viele Menschen gut ausgebildet. Sie haben die Folgen ihrer Flucht abgeschätzt und die Risiken in Kauf genommen, um nach Deutschland zu kommen. Sie sind große Überlebenskünstler. Wir Deutschen können wiederum unser demografisches Problem lösen. wir sollten vermitteln: "Toll, dass ihr es geschafft habt, diesem Chaos zu entfliehen und zu uns zu kommen. Wir brauchen euch, eure Kinder und eure Tatkraft ganz dringend."

Und was ist mit den schwer traumatisierten Flüchtlingen?

Klentzan: Es wird immer eine kleinere Gruppe von Menschen geben, die so schweres Leid erfahren haben, dass sie nur sehr schwer darüber hinwegkommen. Diese bedürfen einer speziellen Unterstützung. Neben therapeutischen Gesprächen benötigen sie beispielsweise eine Betreuung, manchmal rund um die Uhr, gezielte Unterstützung bei alltäglichen Dingen, unter Umständen auch für einen begrenzten Zeitraum eine unterstützende Medikation. Diese Menschen müssen schrittweise lernen, wieder Kontrolle über ihr eigenes Leben zu erlangen, bevor sie integriert werden können. Und manche werden immer auf Hilfe angewiesen bleiben.

Brauchen wir mehr Traumatherapeuten?

Klentzan: Ich bin zertifizierter Traumatherapeut und weiß, dass diese Zusatzausbildung viel Zeit in Anspruch nimmt. Das hat in dieser Situation nicht die erste Priorität. Jetzt müssen wir schnell vielen Menschen, auch im psychosozialen Bereich beistehen. Wir müssen vor allem die Multiplikatoren schulen und unterstützen. Das sind die Sozialarbeiter, die Erzieherinnen, die Lehrerinnen und Lehrer, aber auch in speziellen Kursen Ehrenamtliche und Übersetzer, also diejenigen, die täglich mit den Flüchtlingen arbeiten. Sie alle müssen das Handwerkszeug beigebracht bekommen, um Traumata zu erkennen und damit umzugehen. Das ist nicht sehr schwer, muss aber dringend geschehen.