Mit einem leisen Klick öffnet Direktor Maik Dietrich-Gibhardt die schwere Holztür zu dem historischen Ort. Eine Metalltafel gleich links davor erläutert, was hier im Saal der Hephata-Kirche im nordhessischen Treysa vor genau 75 Jahren geschah: 120 Männer aus 28 Landeskirchen wagten drei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang und gründeten mitten in einem zertrümmerten Land die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD).

"Das macht uns schon stolz", sagt Dietrich-Gibhardt (55), seit sechs Jahren Leiter des hessischen Diakoniezentrums "Hephata": "Als Gründungsort der EKD hat Treysa eine bleibende Bedeutung."

Die Chronik des Zentrums gibt noch Einblick in die Ereignisse von damals. "Die Zahl der Teilnehmer wuchs ständig", notierte der frühere Hephata-Direktor Friedrich Happich in kursiver Schreibmaschinenschrift. Nur 47 Teilnehmer hatte der württembergische Landesbischof Theophil Wurm für die Konferenz vom 27. bis 31. August 1845 angemeldet - am Ende musste die Einrichtung einschließlich der Tagesgäste bis zu 140 Herren in abgenutzten Anzügen beherbergen und verköstigen.

Viele unterschiedliche Konzepte und viele Kartoffeln

"Es gab gekochte Kartoffeln mit einer dünnen Fleischsoße, dazu eingelegte rote Beete und Pfefferminztee", notierte der amerikanische Pastor Stewart Herman, der als Beobachter teilnahm. "Viele Delegierte brachten Rucksäcke voller Kartoffeln und Wurststücke mit."

Alle Teilnehmer waren sich einig, dass nach der NS-Zeit eine neue Dachorganisation an die Stelle der 1933 gegründeten, Staats-fixierten "Deutschen Evangelischen Kirche" treten musste. Doch sie trugen Konzepte im Gepäck, die unterschiedlicher kaum sein konnten, wie der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke erläutert.

So strebte der bayerische Landesbischof Hans Meiser eine Konfessionskirche der Lutheraner an, in der die reformierten und unierten Protestanten nur am Rande vorkommen sollten. Martin Niemöller dagegen, in der NS-Zeit Symbolfigur der kirchlichen Opposition gegen Hitler, plädierte für eine "Kirche von unten":

Von den Gemeinden her sollte sie sich aufbauen und ihre Schuld am Nazi-Unheil bekennen.

Immer wieder gerieten der "Vulkan" genannte Niemöller und der "Eisberg" Meiser im Kirchsaal von "Hephata" aneinander. "Sie haben es kaum zusammen in einem Raum ausgehalten", sagt Oelke. Die Konferenz drohte zeitweilig zu platzen.

Dass es nicht dazu kam, ist zum großen Teil dem Stuttgarter Bischof Wurm zu verdanken. Wurm galt wegen seines Protests gegen das Euthanasie-Programm der Nazis zur Tötung geistig behinderter Menschen als moralische Autorität. Seit 1941 verfolgte er ein kirchliches Einigungswerk: Er wollte die zerstrittenen Gruppen der kirchlichen Opposition zusammenführen. "Er hatte Charisma, ihm traute man das zu."

Vor 75 Jahren: Kirchenvertreter einigen sich auf einen Kompromiss in Treysa

Nach hitzigen Diskussionen einigten sich die Kirchenvertreter in Treysa auf einen Kompromiss: die Vorläufige Ordnung für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Darin wird die Eigenständigkeit der Landeskirchen betont. Auch auf ein eigenes Bekenntnis verzichtet die EKD. Sie soll in erster Linie die Interessen der Kirche nach außen vertreten und ihre politische und soziale Verantwortung wahrnehmen - unter anderem durch das neu gegründete Evangelische Hilfswerk, das sich um Flüchtlinge und Vertriebene kümmern sollte.

Eine Lektion aus den Erfahrungen der NS-Zeit war die neue Leitungsstruktur mit einem zunächst zwölf Personen umfassenden Rat aus Theologen und Laien an der Spitze. Erster EKD-Ratsvorsitzender wurde Wurm, sein Stellvertreter Niemöller. In den Rat rückte auch der Jurist und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann.

Die Debatten in Treysa sollen so turbulent verlaufen sein, dass einige Delegierte zwischendurch den Saal verließen. Der sonst so besonnene Wurm soll mit der Faust auf den Tisch geschlagen haben. Keiner war mit dem Ergebnis zufrieden, alle Lager mussten Federn lassen. Doch die Einigung stand. Beobachter haben es als "Wunder" gewertet, dass sie überhaupt zustande kam. "Es war eine sehr pragmatische Entscheidung, die der Situation gerecht wurde", bilanziert Oelke. Der heutige EKD-Ratsvorsitzende, der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, sagte über die Gründung: "Errichtet wurde kein stolzer Dom, sondern eher eine Baracke - aber eine erstaunlich wetterfeste."

EKD heute: 20 Landeskirchen mit 20,7 Millionen Protestanten

Die Konferenz hatte weitreichende Folgen: Im Oktober 1945 bekannten die Protestanten in der Stuttgarter Erklärung ihre Mitschuld am Nazi-Unheil: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Dieses Bekenntnis ebnete dem deutschen Protestantismus den Weg zurück in die weltweite Gemeinschaft der Kirchen. 1948 entfaltete die junge EKD in Eisenach die Ergebnisse von Treysa in ihrer Grundordnung und nahm so endgültig Gestalt an.

Heute gehören der EKD 20 Landeskirchen mit insgesamt rund 20,7 Millionen Protestanten an. Doch sie verliert seit Jahren an Mitgliedern. Bedford-Strohm betont daher: "Wir müssen raus - dahin, wo sich der Alltag der Menschen abspielt. Und müssen hören, was die Menschen wirklich suchen und brauchen, um Kraft und Orientierung in ihrem Leben zu bekommen."

Evangelische Kirche in Deutschland

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist die Gemeinschaft der 20 evangelischen Landeskirchen in der Bundesrepublik mit derzeit 20,7 Millionen Protestanten. Wichtigste Leitungsgremien sind die EKD-Synode mit 120 Mitgliedern, die Kirchenkonferenz mit Vertretern der Landeskirchen sowie der aus 15 ehrenamtlichen Mitgliedern bestehende Rat. Ratsvorsitzender ist der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Sitz des EKD-Kirchenamtes ist Hannover.

Die EKD wurde 1945 bei einer Konferenz im nordhessischen Treysa als Zusammenschluss lutherischer, reformierter und unierter Landeskirchen ins Leben gerufen. Die einzelnen Landeskirchen sind selbstständig, die EKD koordiniert jedoch das einheitliche Handeln. Ihre Aufgaben liegen vor allem bei Fragen der öffentlichen Verantwortung der Kirche und bei den Beziehungen zu den Partnerkirchen im Ausland. Zudem ist die EKD zuständig für die Herausgabe der Lutherbibel und des Gesangbuchs. Sie veröffentlicht regelmäßig Denkschriften zu ethischen, sozialen, politischen und theologischen Themen.

Die Teilung Deutschlands hatte 1969 auch für die evangelische Kirche eine organisatorische Trennung zur Folge: Acht ostdeutsche Landeskirchen mussten unter dem Druck des SED-Regimes eigene Wege gehen. Sie organisierten sich im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Dennoch blieb die evangelische Kirche aufgrund der "besonderen Gemeinschaft" eine wichtige Klammer zwischen Ost und West. Nach der staatlichen Wiedervereinigung schlossen sich beide Kirchenbünde im Juni 1991 zur vereinten EKD zusammen.

Anfang 2007 wurde eine Strukturreform wirksam, die auf eine enge Verzahnung der Organe und Dienststellen von EKD und konfessionellen Zusammenschlüssen der Lutheraner und Unierten abzielt. Seit 2009 tagen daher die EKD-Synode, die lutherische Generalsynode und die Vollkonferenz der unierten Kirchen zeitlich und personell verzahnt am gleichen Ort.