Welcher Islam gehört zu Deutschland, welcher nicht?

Ourghi: Früher hat man gefragt, ob der Islam zu Deutschland gehört. Das ist aber längst passé. Wir haben viele Muslime, die hier geboren und sozialisiert sind. Ihnen gegenüber empfinde ich das als ungerecht, zu sagen, dass ihre Religion oder gar sie selbst nicht zu Deutschland gehören. Ich sage aber auch ganz deutlich: Der Islam in seiner konservativen Form, der von den Dachverbänden hier bei uns gepredigt wird, gehört nicht zu Deutschland. Sondern nur ein liberaler Islam, der mit unseren westlichen Werten und unserem Grundgesetz vereinbar ist.

Nitsche: Muslime gehören seit vielen, vielen Jahren zur Bevölkerung in Deutschland. Ein Islam, der Muslime theologisch begründet, ermutigt und unterstützt, in unserer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung zu leben, gehört ebenfalls zu Deutschland. Alle Formen des Islam, die es im Augenblick in Deutschland gibt, gehören zwar phänomenologisch zu Deutschland; sie existieren halt einfach. Die Frage ist aber, welche Formen des Islam einen Beitrag dazu leisten, dass wir in Frieden zusammenleben können.

 

Herr Ourghi, welche Reaktionen haben Sie auf Ihr Buch »40 Thesen zur Reform des Islam« bekommen – aus der muslimischen Community und der Kirche?

Ourghi: Das Echo ist groß. Ich bekomme aus ganz Deutschland Einladungen zu Vorträgen. Und ich bekomme auch E-Mails von Protestanten, die dankbar für so ein Buch sind. Das ist für mich eine große Ehre. Zu den Muslimen: Ich unterscheide hier zwischen zwei Gruppen. Es gibt die »heimlichen« Muslime, die lieber eine E-Mail schicken, mir für mein Buch danken und die mich ermutigen, weiterzumachen. Genannt werden möchten sie aber nicht. Und dann gibt es einige Muslime, zu denen auch die etablierten Dachverbände oder einige Intellektuelle gehören, die versuchen, eine Reform des Islam zu verhindern. Aber egal, ob die Kritik konstruktiv oder destruktiv ist: Hauptsache, es entsteht eine Diskussion.

 

»Der Islam braucht den Gott der Liebe«

 

Was halten Sie vom Umgang der Kirchen mit dem Islam?

Ourghi: Ich warne vor einer gewissen »Unheil-Allianz«, wenn die Kirchen mit den konservativen Dachverbänden zusammenarbeiten. Diese Dachverbände sehen ihre Aufgabe darin, die hier geborenen Muslime zu re-islamisieren. Sie haben Angst, dass die Muslime durch die westliche Kultur hier entfremdet werden. Und gleichzeitig gibt es ein Programm, die Mehrheitsgesellschaft zu islamisieren. Wenn sie die Vertreter der Kirchen treffen, dann sagen sie nur das, was die Kirchen gern hören wollen. Was sie heimlich in ihren Gemeinden predigen – zum Beispiel dass sie die Inhaber der absoluten Wahrheit und alle anderen ungläubig sind –, bekommen die Kirchen nicht mit.

Nitsche: Wir haben eine Zeit lang in der Tat zu sehr darauf gesetzt, dass wir mit den Verbänden Gesprächspartner haben, um in den zentralen Fragen – etwa beim islamischen Religionsunterricht auf Deutsch an Schulen und nicht in Moscheen – weiterzukommen. Das ist ja einer der Hauptgründe, warum der flächendeckende Islamunterricht bundesweit immer noch nicht wirklich in die Gänge gekommen ist.

 

»Es ist sehr traurig, dass Islam-Reformer auf Personenschützer angewiesen sind«: Professor Abdel-Hakim Ourghi.
»Es ist sehr traurig, dass Islam-Reformer auf Personenschützer angewiesen sind«: Professor Abdel-Hakim Ourghi.

 

Die Kirchen reden also mit den Falschen und dazu noch mit einer gehörigen Portion Naivität?

Nitsche: Zweimal nein! Wir reden nicht mit den Falschen! Wir reden vielleicht noch nicht mit allen, mit denen wir reden müssten. Diejenigen, die im Dialog mit den Muslimen sind, sind nicht mehr so naiv wie noch vor ein paar Jahren. Wir waren in den letzten Jahren alle miteinander als deutsche Gesellschaft, aber insbesondere auch als Kirchen in einer gewissen Weise naiv. Wir christliche Kirchen haben als großer Player in der Gesellschaft eine Verantwortung, zum Beispiel auch, dass Vertreter des Islam sich und ihre Glaubensüberzeugungen darstellen können, wenn sie auf dem Boden unseres Grundgesetzes argumentieren. Deshalb laden wir solche, häufig liberale, Muslime ein und bieten ihnen eine Plattform, etwa in unseren Bildungseinrichtungen.

Ourghi: Dafür sind wir den Kirchen auch sehr dankbar!

 

Wie kann, Herr Nitsche, die Kirche konkret den Reform-Islam unterstützen? Was erwarten Sie, Herr Ourghi, von den Kirchen?

Ourghi: Die beiden Kirchen sollten den Islam wirklich wahrnehmen. Dafür reicht nicht ein netter und harmonischer Vortragsabend, von dem alle zufrieden nach Hause gehen. Wir brauchen vielmehr zukunftsorientierte und realitätsnahe Konzepte, wie die Kirchen mit dem liberalen Islam zusammenarbeiten können. Wir brauchen uns gegenseitig, und zwar nicht einmal in erster Linie für uns selbst, sondern für eine friedliche Zukunft für unsere Kinder.

Nitsche: Zuerst haben wir als Königsweg auf die Verbände gesetzt, was sich als nicht tragfähig erwiesen hat. Als Kirche müssen wir uns aktiv und energisch dafür einsetzen, dass der Reform-Islam eine Stimme bekommt. Wir brauchen den hartnäckigen Diskurs.

 

»Wir müssen uns energisch dafür einsetzen, dass der Reform-Islam eine Stimme bekommt«: Regionalbischof Stefan Ark Nitsche.
»Wir müssen uns energisch dafür einsetzen, dass der Reform-Islam eine Stimme bekommt«: Regionalbischof Stefan Ark Nitsche.

 

Sie beide sagen, dass es sich nicht gehört, sich in die innertheologischen Debatten der jeweils anderen Religion einzumischen. Gibt es aber nicht doch eine rote Linie zum Islam, wo die Kirche sagt: Ab dem Punkt können wir nicht mehr schweigen?

Nitsche: Die evangelische Kirche in Bayern hat eine Konzeption für den christlich-muslimischen Dialog, in der die rote Linie in zehn Punkten markiert ist: Bekenntnis zur Geltung der individuellen Menschenrechte, die Achtung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau, Bejahung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der individuellen Freiheit, Akzeptanz der grundsätzlichen Unterscheidung von Kirche und Staat, Abgrenzung gegenüber jeder Form von gewaltbereitem Fundamentalismus und Extremismus, Ablehnung des Antisemitismus, Eintreten von Christen gegen Islamfeindlichkeit, Eintreten für die Achtung der Religionsfreiheit hierzulande und in islamischen Staaten, Integration von Zuwanderern. Das sind die nicht verhandelbaren Punkte für den christlich-islamischen Dialog.

Ourghi: Diese zehn Thesen sind natürlich richtig und gut. Und dennoch suchen die Kirchen den Dialog ausgerechnet mit den Konservativen, die diese Thesen nicht unterschreiben würden. Ich würde mich freuen, wenn die beiden Kirchen zu den konservativen Muslimen endlich mal sagen würden: Hören Sie mal auf, wir glauben Ihnen nicht mehr. Sie fahren eine doppelte Strategie.

Nitsche: Aber erst mal muss doch geklärt werden, was nicht verhandelbar ist. Das sind ethisch-gesellschaftliche Werte. Ich würde mir wünschen, dass die Muslime zum Beispiel schwierige Suren, wie die Schwertsuren, kritisch beleuchten können, weil sie zu Unfrieden und Gewalt führen. Das haben wir Christen ja mühsamst in unserer 2000-jährigen Geschichte lernen müssen. Auch in der Bibel gibt es ja Passagen, die nicht vereinbar sind mit unserem heutigen Verständnis.

 

Über den Reformator Luther hat ein mächtiger Kurfürst seine schützende Hand gehalten. Brauchen die Vertreter eines liberalen Islam – neben Personenschützern – auch so einen Beistand von ganz oben?

Ourghi: Wie ich aus eigener Erfahrung sagen kann, ist es sehr traurig, dass Islam-Reformer wie ich in einem freien Land wie Deutschland auf Personenschützer angewiesen sind. Dabei lehnen wir den Islam ja nicht plakativ ab, sondern wollen versuchen, den Islam mit den Prinzipien der Vernunft und der Aufklärung zu reformieren. Viele Muslime kommen damit jedoch nicht klar. Deshalb bezahlen wir unser Engagement mit einer Einbuße an persönlicher Freiheit, weil einige unter den Islam-Reformern 24 Stunden am Tag geschützt werden müssen.

Nitsche: Was heute die Personenschützer sind, war für Luther früher die Wartburg. Der Staat nimmt also auch in Form des Personenschutzes seine Verantwortung wahr, damit Islamkritiker keinen Schaden nehmen. Im Vergleich zu Luther sind wir aber inzwischen 500 Jahre weiter: Heute ist es nicht mehr Aufgabe einzelner Parteien und schon gar nicht von Fürsten, sondern der gesamten Gesellschaft, genügend Freiräume zu schaffen, in denen Reformbestrebungen eine Chance haben.

 

Im Alltag, beispielsweise an Schulen, stellt sich aber die Frage, ob alle an einen gemeinsamen Gott glauben ...

Nitsche: Konkret geht es dabei doch darum, ob es an Schulen zum Beispiel nach Katastrophen eine multireligiöse oder eine interreligiöse Feier gibt. Dabei dürfen wir aber einen ganz großen Unterschied nicht außer Acht lassen: Der Gottesbegriff des Islam und des Christentums ist nicht identisch. Wenn also bei einer Schulfeier alle ein christliches Gebet sprechen sollen, können da die Muslime nicht mit. Eben weil ihnen dann unsere Vorstellung der Trinität, des Dreieinigen Gottes, übergestülpt würde. Und umgekehrt. Die verschiedenen religiösen Identitäten dürfen nicht ineinander verwaschen werden. Eine falsch verstandene Schmelztiegelkultur ist kontraproduktiv und führt zu nichts. Deshalb plädiere ich zum Beispiel an den Schulen für multireligiöse, aber nicht für interreligiöse Feiern. 

Ourghi: Dem würde ich aber entgegenhalten, dass es nur einen Gott gibt – egal in welcher Form. Es gibt drei Wege zu diesem Gott, die sich nicht überkreuzen dürfen, sondern sich gegenseitig ergänzen.

Nitsche: Das ist aber in erster Linie eine Frage der Perspektive. Von Gott her gedacht, ist klar: Es gibt nur einen Gott, aber konkrete und unterschiedliche Glaubenserfahrungen der Menschen in verschiedenen Religionen, die wiederum mit Kulturen verbunden sind. Wir können nur über unsere religiösen Hoffnungen und Überzeugungen reden – am Ende entscheidet Gott. Und ich finde, das ist ein Glück, dass er entscheidet und nicht wir!

 

Im Verhältnis zum Islam bleibt das Kopftuch offensichtlich ein Reizthema. Nach Ansicht der evangelischen Frauen müsse die Entscheidung von Frauen für das Kopftuch akzeptiert werden.

Ourghi: Ich respektiere jede Frau, die aus freien Stücken ein Kopftuch trägt. Die Realität sieht jedoch total anders aus. Denn die Frauen und Mädchen sind einem enormen sozialen Druck ausgesetzt, vor allem in der Fremde, im Ausland. Wenn Frauen kein Kopftuch tragen, werden sie aus der eigenen Gemeinde ausgeschlossen, es kommt also zu einer völligen Isolierung. Dabei gibt es im gesamten Koran keine Passage, die das Kopftuch vorschreibt. Es ist vielmehr das historische Produkt der männlichen Herrschaft, denn es geht um die Kontrolle über den Körper und den Geist der Frauen. Das Kopftuch hat die Funktion, die männliche Kultur sicherzustellen und zu befriedigen. Was wir voneinander lernen können

Nitsche: Wir dürfen bei der Diskussion um das Kopftuch nicht in die Falle tappen, kulturelle Prägungen, wie Vorgaben des Patriarchats, religiös zu verbrämen und zu untermauern. Ganz im Gegenteil: Jede Religion, sei es das Christentum oder eine liberale Auslegung des Korans, sollte von kulturellen Zwängen befreien und den Menschen persönliche Entfaltung und volle Teilhabe in der Gesellschaft ermöglichen.

 

Verstellen die aktuellen Probleme den Blick dafür, was Islam und Christentum voneinander lernen können?

Nitsche: Als Christen können uns die Muslime ein Beispiel geben, was es bedeutet, die eigene religiöse Identität ernst zu nehmen und zu wissen, was im Leben trägt. Damit sind wir in der evangelischen Kirche wohl manchmal mit einer gewissen Schludrigkeit umgegangen. Überzeugte Muslime können uns Christen zur Sprachfähigkeit in religiösen Dingen anregen. Mich hat immer die ästhetische Kunst des Umgangs der Muslime mit ihrer Heiligen Schrift berührt. Wenn eine geübte Stimme den Koran rezitiert, erschließen sich Dimensionen, die weit über den evangelischen Markenkern des Verstands und des Vernünftigen hinausgehen. Diese Poesie der Sprache eröffnet neue Welten.

Ourghi: Von der deutschen Kultur können wir Muslime lernen, wie wichtig die Aufklärung war. Das brauchen wir dringend. Außerdem fehlt mir im Islam das Konzept der Nächstenliebe. Denn Muslime haben eher den Drang, den anderen destruktiv zu behandeln. Deshalb sehe ich es als Aufgabe der Reformer des Islam, eine »Gnadentheologie« zu entwerfen. Dabei geht es um einen Gott, der nicht in die Hölle schickt, sondern verzeiht. Gott ist Liebe – das können wir vom Christentum lernen.