Er war weit jenseits der 50, als sich Edvard Kovalerchuk zu einem großen Schritt entschloss: Der Jude aus St. Petersburg wollte in Würzburg ein neues Leben beginnen. Er gab sein Zuhause auf, seine Freunde, seinen Beruf. 22 Jahre ist das her. In Russland, seiner Heimat, hatte Kovalerchuk teils massive Judenfeindlichkeit erlebt.

In Deutschland war das zunächst anders. Inzwischen aber bekommt er auch hier wieder Angst, sagt der heute 79-Jährige. Denn die Zahl antisemitischer Straftaten steigt kontinuierlich.

Juden in Deutschland fühlen sich immer öfter unsicher

Kovalerchuk ist Ingenieur, in St. Petersburg engagierte er sich auch kommunalpolitisch. Der Weg nach oben war hart. In der Schule, erzählt Kovalerchuk, war er der einzige jüdische Junge - und daher Außenseiter: "Es gab fast täglich Schlägereien, immer war die ganze Klasse gegen mich." An der Technischen Uni nahm die Prüfungskommission seine Papiere nicht an. Kovalerchuk ging zum Rektor, um sich zu beschweren. Der antwortete nur: "Raus!" Er musste sich eine andere Uni für seinen Abschluss suchen.

In den 1990er Jahren war Kovalerchuk mit einem neuen Problem konfrontiert: Die organisierte Kriminalität nahm riesige Ausmaße an. "Drei meiner Mitarbeiter wurden damals getötet." Er war zu jener Zeit stellvertretender Bürgermeister für Sozialwesen in seinem Stadtteil.

Als die Wiederwahl anstand, entdeckte er im Treppenhaus nahe seiner Wohnung antisemitisches Geschmier mit Todesdrohung, das eindeutig auf ihn gemünzt war. Bald darauf beschloss Kovalerchuk, nach Würzburg zu emigrieren.

Jüdisches Leben in Würzburg

Wer irgendwo einwandert, ist auf die Hilfsbereitschaft der Einheimischen angewiesen. Ist doch am Anfang alles völlig fremd. Dass sie in Würzburg auf so viele hilfsbereite Menschen stoßen würde, hätte sie nie gedacht, sagt Marina Zisman, die ebenfalls aus St. Petersburg stammt und vor 25 Jahren nach Würzburg kam. "Ich hatte vor diesem Schritt große Angst", sagt die 65-Jährige, die sich wie Kovalerchuk im Jüdischen Gemeindezentrum "Shalom Europa" engagiert, seitdem sie in Würzburg lebt.

Die Angst legte sich bald nach ihrer Ankunft. Zisman genoss es, in Würzburg freier leben zu können. Nicht zuletzt auch in religiöser Hinsicht. In Würzburg konnte die Musikerin auch ihrer Kreativität freien Lauf lassen: Zisman leitet etwa den Chor "Menora", in dem Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion jüdische, russische und israelische Lieder singen. Daneben engagiert sich Zisman in der Sonntagsschule der Gemeinde. Die müsse heutzutage wie der Religionsunterreicht unter Polizeischutz stattfinden, klagt sie.

Wie der Anschlag in Halle das Gemeindeleben beeinflusst

Seit dem Anschlag von Halle achtet die Gemeinde noch einmal mehr auf Sicherheit, bestätigt Musiklehrerin Regina Kon, die 1951 in Moskau geboren wurde und 1999 nach Würzburg kam. Die Angst in der jüdischen Gemeinde habe merkbar zugenommen.

Die männlichen Gemeindemitglieder würden sich inzwischen nicht mehr öffentlich mit der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung, der Kippa, zeigen, sagt Kon. Auch er würde das nicht tun, sagt Kovalerchuk. Es passiere inzwischen einfach zu viel.

Kovalerchuk ist Mitglied im Gemeindevorstand, er registriert ganz genau, wie Antisemitismus in Deutschland zunimmt. Vergangenes Jahr wurden 2.275 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund registriert - ein Plus von mehr als zehn Prozent gegenüber 2019. Und doch sei es kein Fehler gewesen, nach Würzburg zu gehen, sagt er. Denn in der jüdischen Gemeinde fühlt er sich sehr wohl. In Würzburg sei ihm noch nie etwas passiert. Auch Marina Zisman und Regina Kon haben noch keine persönlichen Angriffe erlebt.

Schuster: Antisemitismus bekämpfen "dringlicher denn je"

Viele Würzburger, sagt Kon, engagieren sich sogar sehr in der Erinnerungsarbeit. Sie kenne mehrere junge Leute, die freiwillig Stolpersteine reinigten. Und doch verbreiten Rechtsradikale und Neonazis Schrecken. Marina Zisman hörte unlängst davon, dass Juden die Schuld an der Pandemie zugeschoben wird: "Wenn ich darüber nachdenke, krieg ich Gänsehaut." Gerade in den sozialen Medien werde "ein unsäglicher Judenhass verbreitet", sagt dazu Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden.

Schuster ist auch Vorsitzender der Würzburger Gemeinde. Das Erstarken des rechten Rands in Deutschland trage dazu bei, dass antisemitische Äußerungen wieder salonfähig würden. "Auf Worte folgen häufig Taten, wie wir beim Anschlag auf die Synagoge in Halle sehen konnten", sagt er. Antisemitismus zu bekämpfen, sei "dringlicher denn je".