Barmherzigkeit – eine Perspektive im Jahr nach der Pandemie?

Jahreswechsel- das ist die Zeit der großen Vorsätze, liebe Hörerinnen und Hörer, Da gibt es so richtige Klassiker: im jetzt kommenden Jahr möchte ich endlich mehr Sport treiben, gesünder essen. mir mehr Zeit für die Familie nehmen, anstatt mich im Beruf zu verzehren. Vielleicht auch: in diesem Jahr möchte ich konsequenter leben. Mehr Fahrrad fahren, um die Umwelt zu schonen. Im Laden immer meine Verpackung und meine Tasche mitbringen, um Plastik zu vermeiden. Beim Einkaufen auf das Fair Trade – Siegel achten, damit andere für ihre Arbeit faire Löhne bekommen.

Mir ist an diesem Neujahrsmorgen in Pandemiezeiten, mitten im Lockdown, nicht nach vielen guten Vorsätzen zumute. Dazu geht das, was wir in den letzten Monaten erlebt haben und was wir noch immer erleben, zu tief. Ich habe das Gefühl, dass es mit den üblichen guten Vorsätzen nicht getan ist. Wir sind zu sehr verwundet, zu sehr getroffen von der Ohnmacht gegenüber einem kleinen Virus, das man überhaupt nur im Mikroskop sehen kann. Dieser Bruch im Lebensgefühl geht einfach zu tief. Was sonst den Einzelnen trifft, der von Krankheit und Tod bedroht ist, macht die Pandemie zu einer gesamtgesellschaftlichen Situation. Es sind alle betroffen. Es sind nicht ein paar Verhaltensänderungen, die mir in den Sinn kommen, sondern etwas viel Grundsätzlicheres. Die Pandemie hat so vieles relativiert, was wichtig zu sein schien. Wie wichtig sind Pläne, die ich schmiede? Wie viele Freunde habe ich? Wie groß ist mein Netzwerk? Was kann ich alles erleben?  Jetzt geht es um viel Elementareres. Und meistens ist es nicht teuer. Oder es kostet gar nichts. Endlich mal wieder jemanden umarmen, ganz ohne Zögern. Wie sehr freue ich mich darauf! Einen unbeschwerten Ausflug machen. Besuch bekommen dürfen, ohne die Kopfzahl zu zählen.

Und: bewusst leben. Viel mehr wahrnehmen, wie kostbar so vieles ist, was ich für selbstverständlich gehalten habe. Dass nicht die Menge meiner Beziehungen das Entscheidende ist, sondern ihre Qualität. Dankbar werden. Es gibt täglich so viel Grund dafür. . Das ist es, was mir durch den Kopf geht.

Und deswegen horche ich auf, wenn ich die Jahreslosung für dieses Jahr 2021 höre, ein Jahr, in dessen Verlauf hoffentlich irgendwann das Leben nach der Pandemie beginnt. Ein Leben, das neu, das anders werden kann als davor.

"Jesus Christus spricht: Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist."

Barmherzigkeit! Es rührt etwas an in mir, wenn ich dieses Wort höre. Es strahlt das aus, was ich ersehne: die Liebe. Es ist wie ein Wegweiser für den Weg, den ich gehen möchte in diesem neuen Jahr.

Barmherzigkeit gegenüber anderen

Wenn ich das Wort "Barmherzigkeit" höre, dann kommen mir Menschen in den Sinn, vor denen ich Hochachtung habe oder die ich bewundere. Einer der bekanntesten ist der Heilige Martin, der der Legende nach seinen Mantel mit dem Bettler teilt. So sehr hat das Menschen inspiriert, dass beim Martinsumzug am Martinstag bis heute die Kinder in den Kindertagesstätten mit Laternen unterwegs sind und das Lied von St. Martin singen. Oder aus neuerer Zeit Mutter Teresa. Auch Menschen, die der Lebenswelt einer katholischen Nonne sehr fern stehen, sind beeindruckt von ihrem aufopferungsvollen Wirken für die Armen in Indien.

Aber auch die Menschen kommen mir in den Sinn, die Barmherzigkeit täglich und von berufswegen üben. Am Krankenbett, im Pflegeheim. Sie dürfen sich keine Berührungsängste erlauben, und keine Erschöpfung. Wie danken wir ihnen das? Ich denke an die Menschen, die sich in der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer engagieren. Meistens in ihrem Urlaub. Einzig und allein, um Menschenleben zu retten. Sie fragen nicht zuerst danach, warum Menschen sich auf die lebensgefährlichen Schlauchboote begeben. Es ist für sie auch nicht entscheidend, ob diese Menschen anders hätten handeln sollen. Entscheidend ist allein, dass sie nicht ertrinken, sondern gerettet werden. Barmherzigkeit fragt nicht nach den Umständen. Barmherzigkeit hilft.

So wie bei den biblischen Geschichten, die von der Barmherzigkeit erzählen. Die bekannteste ist die vom Barmherzigen Samariter. Jesus erzählt sie, um das Gebot der Nächstenliebe zu erklären. Und alle verstehen sie, egal, ob sie religiös sind oder nicht. Barmherzigkeit spricht für sich! Wer ist mein Nächster? Diese Frage dreht Jesus um und am Ende steht eine andere: Wem bin ich zum Nächsten geworden? Zwei Menschen gehen vorbei, obwohl sie genau sehen, dass der Überfallene, der am Wegrand liegt, in Not ist. Ein Spiegel für jede und jeden, um sich selbst wiederzuerkennen. Der eigenen Gleichgültigkeit gewahr zu werden, mit der ich manchmal wegsehe, wenn mir Not begegnet. Es ist absolut klar, das spüren wir alle, dass der Samariter das Richtige tut – und das, obwohl er als Samariter ein Fremder, ein Andersgläubiger ist. Er redet nicht viel, er handelt einfach. Er tut das nicht, weil er Gott gefallen will. Er lässt sich schlicht anrühren von der Not des Anderen. "Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist."

Ist das nicht "gutes Leben"? Mehr Barmherzigkeit im Jahr 2021 - ist das nicht eine Perspektive, die viel mehr Licht verbreitet als eine Pandemie je an Dunkelheit schaffen kann?

Unbarmherzigkeit

"Jesus Christus spricht: Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist." Warum erreicht dieser Satz unser Herz?

Ich glaube, weil wir das Gegenteil gut kennen: Unbarmherzigkeit. Und wir uns alle danach sehnen, dass diese Unbarmherzigkeit endlich aufhört.

Der Ort, an dem sie in den letzten Jahren am deutlichsten sichtbar geworden ist, sind die sozialen Medien.

Der Schauspieler Tom Schilling hat das kürzlich zu spüren bekommen. Vor Weihnachten hat er ein Interview gegeben, in dem er auch über seine Corona-Erfahrung Auskunft gegeben hat. In dem Zusammenhang hat er auch gesagt "ich finde einfach Ausnahmezustände toll". Daraufhin ist ein Sturm der Empörung in den sozialen Netzwerken losgegangen. All der Frust und die Wut und vielleicht auch die Angst, die Menschen angesichts der schlimmen Situation empfinden, ist darin zum Ausdruck gekommen. Was der Schauspieler sagen wollte? Dass der Stillstand ihm gutgetan habe während des ersten Lockdown und dass das Virus ihm wie unter einem Brennglas gezeigt habe, was mit dem Zustand dieser Welt nicht in Ordnung ist. "Es war" – so Tom Schilling – als sei ich im Kloster, als hätte ich in der erzwungenen Ruhe mehr zu mir selbst gefunden." In den sozialen Medien kam es so rüber, als genieße er die Pandemie. Über die zunehmende Empörungskultur sagt der Schauspieler: Mit den sozialen Medien "ging der ganze Mist los. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass viele Online-Medien ihre Kommentarspalten abgeschaltet haben. Es war wie in Sodom und Gomorrha."[1]

Über eine lange Zeit haben sich die Hasskommentare immer mehr ausgebreitet. Aussagen über andere Menschen, aus denen nur noch menschliche Kälte sprach, wurden weitgehend hingenommen oder als unvermeidlicher Teil dieser neuen digitalen Kommunikationsformen gesehen. Aber das hat sich geändert. Weil uns so viel Unbarmherzigkeit frösteln lässt. Weil immer mehr Menschen es wahrnehmen und nicht mehr hinnehmen wollen, dass die sozialen Medien immer mehr zu asozialen Medien werden. Und dass die Algorithmen des Internets extreme Inhalte nach oben spülen und immer mehr verbreiten, weil solche extremen Inhalte häufiger angeklickt werden und man mehr Werbegeld damit verdienen kann. Viele Menschen sagen jetzt: Das kann nicht so weitergehen! Unbarmherzigkeit als Grundton von Rückmeldungen, Gesprächen und persönlichem Austausch verliert an Akzeptanz. Wir haben es satt, dass sie unsere sozialen Beziehungen vergiftet.

Dass Unbarmherzigkeit nichts ist, was sich erst in den neuen digitalen Kommunikationsmedien ausgebreitet hat, kommt in vielen Geschichten der Bibel zum Ausdruck. Eine der eindrucksvollsten ist Jesu Gleichnis vom Schalksknecht, von dem der Evangelist Matthäus berichtet:

Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig. Da er’s nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und zu zahlen. Da fiel der Knecht nieder und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s alles bezahlen. Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch. Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s bezahlen. Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war. Als nun seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte. Da befahl ihn sein Herr zu sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er schuldig war. So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder. (Mt 18,23-35)

Dieses Gleichnis über die Unbarmherzigkeit und ihre Folgen trifft mich. Mit drastischen Worten werden die Folgen der Unbarmherzigkeit beschrieben. Der unbarmherzige Knecht erleidet Pein. Der Gott, dessen Barmherzigkeit wir doch immer so hervorheben und den ja auch die Jahreslosung als barmherzigen Vater charakterisiert, dieser Gott ist nun selbst unbarmherzig. Er ist unbarmherzig gegenüber der Unbarmherzigkeit.

Gott ist eben kein harmloser Gott, kein Kuschelgott, dessen Liebe und Barmherzigkeit am Ende in die Belanglosigkeit führen würden. Nein, es ist Gott ernst mit der Barmherzigkeit. Das Gleichnis trifft mich, weil ich seine Wahrheit spüre. Weil ich spüre, wie Unbarmherzigkeit tatsächlich in die Pein führt. Sie vergiftet Beziehungen. Sie führt in die Einsamkeit. Wer will denn mit unbarmherzigen Menschen zusammen sein? Auf Barmherzigkeit sind wir doch alle angewiesen. Und wo sie fehlt, breitet sich Kälte aus. Mit Hölle verbindet man normalerweise Hitze. Aber auch Kälte kann die Hölle sein.

Warum erzählt Jesus dieses Gleichnis? Nicht, weil er möchte, dass der unbarmherzige Knecht in der ewigen Pein landet. Sondern weil er ihn davor bewahren will. Weil er seine Umkehr will. Weil er uns unbarmherzigen Knechten den Weg ins Leben weisen will. Weil er uns lehren will, wie die Barmherzigkeit die Türöffnerin ist in ein gutes Leben.

Barmherzigkeit gegenüber sich selbst

"Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." Dieses Wort Jesu aus der Bergpredigt beziehen wir normalerweise auf die Barmherzigkeit gegenüber anderen. Und das ist auch richtig so. Aber es ist auch ein Wort über die Barmherzigkeit gegenüber uns selbst.

Und dafür gibt es gerade jetzt Anlass. Dieser permanente Ausnahmezustand hat uns bis heute viel abverlangt. Hat uns zermürbt. Hat uns verwundet. Immer wieder liegen die Nerven blank. Weil wir es nicht mehr aushalten. Ungerecht gegenüber anderen werden. So mancher Vater, manche Mutter hat Situationen erlebt, wo nach Wochen der Ausgangssperre zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen ist. Wo die Kinder nicht mehr beschäftigt werden konnten. Wo Homeoffice, Eltern sein, Haushalt organisieren, Leben organisieren einfach zu viel war. Wo die Gefühle gegenüber den Kindern durchgegangen sind. Worte gefallen sind, die nicht hätten fallen sollen. Können wir das wieder gut machen? Können wir uns das vergeben?

Oder da, wo wir für viele andere Verantwortung getragen haben. Für das ganze Land. Für die Kirche. Für den Betrieb. Haben wir die richtigen Entscheidungen getroffen? Wem haben wir mit unseren politischen Entscheidungen vielleicht die Existenz zerstört? Wir haben uns oft in einem Zwiespalt befunden. Haben wir dann die falsche Entscheidung getroffen? Wo haben wir nicht genau genug hingeschaut?

Ich stelle mir selbst diese Frage. Ganz besonders im Hinblick auf die Situation in den Altenheimen. Wir haben das Problem schon im Frühjahr immer wieder besprochen. Haben versucht Schutzkleidung für die Seelsorger zu bekommen. In den kirchlichen Altenheimen nachgefragt, wie die Seelsorge trotz der Ansteckungsgefahr gewährleistet werden kann. Die Antworten waren unbefriedigend. Hätten wir trotz des Dilemmas zwischen Zugang zu den Heimen auf der einen Seite und verschärfter Ansteckungsgefahr auf der anderen Seite öffentlich protestieren sollen? Sind wir Menschen in ihren letzten Tagen des Lebens etwas so Entscheidendes schuldig geblieben? Und ihren Angehörigen, die sie begleiten wollten?

Kann man sich selbst vergeben? Barmherzig gegenüber sich selbst sein? Ich kann es nicht aus mir selbst heraus. Jesus Christus spricht: – "Seid barmherzig wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist". Das soll uns jeden Tag in diesem neuen Jahr begleiten und vor Augen stehen: Gott ist ein barmherziger Gott. Das macht mir Mut. Das hilft mir, Frieden zu finden. Das lässt mich nach vorne schauen.

Und wenn ich die Augen schließe und warte, welche Bilder in mir hochkommen, dann sehe ich die offenen Arme des Vaters in Jesu Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Das ganze Erbe des Vaters hat er mit seinem Leben auf großem Fuß verprasst, der Sohn. Und als er ganz am Boden ist, beschließt er, nach Hause zu gehen und dort Knechtsdienste zu leisten. Mit bangem Herzen kommt er zu Hause an, doch es erwarten ihn nicht Vorwürfe, Zurechtweisung oder Frondienst. Es erwarten ihn die offenen Arme des Vaters. Und ein Fest der Freude über seine Rückkehr.

Kann es etwas Schöneres geben, als ein solches Zuhause zu haben? Kann es ein tieferes Gefühl des Geliebtseins und des Angenommenseins in der Seele geben als die Beziehung zu Gott als einem Vater oder einer Mutter, deren Liebe stärker ist als alle Fehler, die wir machen? Kann es eine stärkere Basis für Barmherzigkeit gegenüber anderen geben als dass mir Barmherzigkeit widerfährt?

Es ist wie eine Spirale nach oben, die in Gang kommt, wenn wir Gottes Barmherzigkeit erfahren. Es ist eine Spirale nach oben – hin zu einem guten Leben. Die Erfahrung der Barmherzigkeit weckt in uns die Sehnsucht nach einem Leben, in dem sich die Barmherzigkeit immer mehr ausbreitet. In dem wir gnädiger werden miteinander, weil wir um unsere eigene Verletzlichkeit wissen.

Wenn wir uns in diesem neuen Jahr auf den Weg machen hin zu einem solchen Leben. Wenn die Nachdenklichkeit, die die schlimme Pandemie-Erfahrung bei vielen in Gang gesetzt hat, tatsächlich zu einem Neuanfang führt. Wenn das Jahr 2021 das Jahr der Umkehr zur Barmherzigkeit wird. Wie wäre das?

Wenn wir beginnen, uns über andere zu empören - einen Moment innehalten und uns an die eigenen Unzulänglichkeiten erinnern. In politischen Debatten die Protagonisten von bestimmten Positionen, die wir leidenschaftlich ablehnen, nicht nur als Vertreter dieser Positionen sehen, sondern als Menschen, in all ihrer Not und Verletzlichkeit. Wenn Menschen Fehler einräumen, das nicht als Beweis ihrer Unfähigkeit sehen, sondern als Hinweis auf die Fähigkeit zum Lernen und als Zeichen der Größe. Uns nicht auf die Schwächen der anderen konzentrieren, sondern auf die Stärken.

Wie wäre ein solches Leben? Es wäre ein gutes Leben! Es wäre ein echter Neuanfang im Jahr 1 nach der Pandemie! Gott möge uns die Kraft dazu geben.

Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Neues Jahr!