"Tröstet, tröstet mein Volk" – das ist als Kirchen unser Job!

Ich sitze hier am Freitagabend vor dem Wochenende des dritten Advent. Ich weiß, was ich hier gerade schreibe, kann in Tagen, vielleicht sogar Stunden schon Makulatur sein. Das ist das "new normal". Denn wenn wir dieses Jahr eines gelernt haben, dann war es Flexibilität – und ich halte mich für flexibel – aber das was so anstrengend!

Ich schreibe diese Zeilen trotz ihres möglicherweise nahen Verfallsdatums, weil mich das Thema berührt, beruflich und persönlich.

Zwischen Stolz und Scham

Ich war in diesem merkwürdigen Jahr hin- und hergerissen. Ich war stolz auf meine Kirche, meine Kolleginnen und Kollegen, aber ich habe mich dieses Jahr auch geschämt.

Stolz war ich, wie viel Kreativität, Energie und Lust am Neuen im Frühjahrs-Lockdown in meiner Kirche freigesetzt wurde. Wir waren online wie nie! Wir haben unsere Botschaft plakatiert, projiziert, kuvertiert und viele haben viel telefoniert. Dank dieses Energieschubs haben wir an Ostern so viele Menschen mit unserer Botschaft erreicht, wie nie.

Zugleich habe ich mich im Nachhinein geschämt, dass wir uns so auf den Krankenhäusern und Altenheimen haben raushalten lassen.

Nur wenige haben auf hygienisch-vermummten Besuchen bestanden oder das Recht auf Seelsorge eingeklagt. Ich denke mir immer: Wir wussten noch so wenig über das Virus, es war richtig, sich zurückzuhalten. Aber rückblickend habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich an die Menschen denke, die ohne Beistand gegangen sind...

Auch nach dem Lockdown habe ich mich hin und wieder geschämt. Es gibt Gemeinden, die das Abendmahl komplett abgeschafft haben. Medizinisch geboten war das nicht. Aber es gab eben "Alptraum"-Szenarien und manchmal reicht das. Nur – meine Aufgabe ist es zur Zeit, Nachwuchs für den Pfarrberuf zu gewinnen.

Und eine Kirche, die nicht Vernunft und Gottvertrauen, sondern die Angst zum handlungsleitenden Motiv macht, ist kein attraktiver Arbeitgeber.

Denn seien wir ehrlich: Gute Gründe, Angst zu haben, gibt es genug. Wenn wir aber jedem möglichen Horrorszenario Raum geben, können wir gleich das Licht aus machen. Aber die Aufgabe der Berufe in der Kirche ist ja eine andere.

"Tröstet, tröstet mein Volk" – das ist als Kirchen unser Job!

Wer am Sonntag in den Gottesdienst geht, der wird im ersten Satz der Lesung aus dem Alten Testament hören: "Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott." Das ist für mich die Jobbeschreibung der Kirche.

Wir bemerken erst Stück für Stück, dass die Pandemie mehr gekostet hat als Leben. Sie hat nicht nur die physische Gesundheit vieler Menschen angegriffen, sondern bei vielen auch die mentale. Telefonseelsorge und Therapiepraxen sind am Anschlag. Praktizierter (!) Glaube ist allerdings – wie gerade nochmal die Untersuchung "Junge Deutsche 2021" festgestellt hat – ein erheblicher Resilienzfaktor, um mental halbwegs gesund durch die Krise zu kommen.

In Gesprächen, Chats und Gottesdiensten für die mitgenommenen Seelen der Menschen da zu sein, das ist unser Dienst. Und so ärgert es mich, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer etwa erklären: "An Weihnachten auf Präsenzgottesdienste zu verzichten ist lebensnotwendig."

Wir leben nicht mehr im Mittelalter, wo die Kirche Deutungsmacht über (Natur-) Wissenschaft und Glaube hatte. Wir leben heute in einer funktional differenzierten Gesellschaft.

Das bedeutet, als Pfarrperson tue ich mein Möglichstes, um in diesen Zeiten da zu sein, wo ich gebraucht werde!

Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, uns zu sagen, was davon aus medizinischer Sicht vertretbar ist oder nicht. Bisher hat die Leopoldina Gottesdienste aus ihrem sehr restriktiven Maßnahmenkatalog ausgenommen. Sie hat die Kirchen und damit die vielen Engagierten vor Ort, die mit viel Aufwand für sichere Konzepte sorgen, sogar ausdrücklich für ihr umsichtiges Agieren gelobt.

Wenn es dabei bleibt, ist völlig klar, was unsere Aufgabe als Kirche an Weihnachten ist: "Tröstet, tröstet mein Volk!" Online, im TV, im Radio und bei Präsenzgottesdiensten! Machen wir unseren Job so gut wir können und lassen wir die Wissenschaft ihren Job machen und uns sagen, was geht und was nicht.

Für alle da sein, für die jetzt Weihnachten anders ist.

Es ist doch völlig klar, dass Weihnachten in diesem Jahr in den Kirchen anders gefeiert wird. Viele werden aus Sorge nicht zu Präsenzformaten kommen. Da wo Menschen an der frischen Luft Gottesdienst feiern, da werden sie Masken tragen und Abstand halten, weil sie es über 10 Monate so gelernt haben und weil ein Outdoor-Gottesdienst nun mal kein Glühwein-Gelage ist, an dessen Ende man sich in den Armen liegt.

Dieses Weihnachten wird aber nicht nur in den Kirchen anders sein. Viele werden dieses Jahr an Weihnachten nicht zu den Eltern, Großeltern oder Enkeln fahren. In einer Stadt wie München, in der über die Hälfte der Haushalte Single Haushalte sind, wird das sehr viel Einsamkeit bedeuten.

Ist es da nicht ein Lichtblick, am Heiligen Abend zu einem Gottesdienst zu spazieren, aus der Entfernung das Weihnachtsevangelium zu hören, danach eine Geige, die "O du Fröhliche" spielt, ein bekanntes Gesicht zu sehen, das mit warmen Augen und einem Nicken sagt "Frohe Weihnachten" - und dann wieder nach Hause zu gehen.

So viele Ehren- und Hauptamtliche haben sich viel Mühe gegeben, Präsenzgottesdienste sicher und schön zu machen. Krippen im Wald, Gottesdienste auf der Wiese mit Sattelzug als Bühne oder Wandelgottesdienste, bei denen Menschen in der offenen Kirche an Stationen vorbei spazieren und wo regelmäßig das Weihnachtsevangelium gelesen wird.

Wieder so ein Moment, an dem ich stolz sein werde auf meine Kirche, ihre Kreativität, ihr Engagement.

Es kann auch alles anders kommen – und zwar sehr schnell.

Aber eine Lektion aus diesem Jahr ist: Es alles anders kommen – und zwar schneller als man denkt. Diese verdammte Flexibilität. Schon nächste Woche könnten RKI und Leopoldina ihre Position ändern. Dann müssen alle noch so schönen Pläne für Präsenzgottesdienste wieder über den Haufen geworden werden. Und wenn wir damit Leben retten können, ist das ein kleines Opfer. Wenn das aber passiert, dann passiert es aufgrund wissenschaftlicher Analysen und nicht aufgrund von vorauseilenden "Alptraum"-Szenarien.

Weihnachten wird nicht ausfallen – denn es hing ja noch nie von uns ab.

Ich würde dann definitiv etwas vermissen. Aber Weihnachten wird nicht ausfallen. Ich habe dieses Jahr über Ostern so großartige Erfahrungen mit Gründonnerstag, Karfreitag und Osternacht via Instagram gemacht und viele Gemeinden haben bereits beschlossen, auch an Weihnachten "zweigleisig" zu fahren. Videos wurden produziert, Päckchen gepackt und Streams eingerichtet.

Weihnachten wird da sein – weil es noch nie von uns abhing, ob es Weihnachten wurde oder nicht. Menschen werden verletzlicher, einsamer und wohl auch trauriger feiern und vielleicht auch darin gerade jesuanischer.

Aber wir als Kirche werden wieder unser Möglichstes getan haben, um die Menschen spüren zu lassen: "Euch ist heute der Heiland geboren."

Egal wie es kommt: Wir sollten nicht noch mehr Angst zu schüren, sondern mit Unterstützung der Wissenschaft die besten Wege finden, das zu tun, was von jeher unsere Aufgabe ist: "Tröstet, tröstet mein Volk!"

Diskussion um Präsenzgottesdienste an Weihnachten

Pfarrerin Gerlinde Feine plädiert dafür, an Weihnachten freiwillig auf Präsenzgottesdienste zu verzichten. "Es ist lebensnotwendig für uns alle", meint die Theologin aus Baden-Württemberg und appelliert an die Kirchenleitungen aller Landeskirchen und Diözesen, freiwillig mit in den Lockdown zu gehen. Hier geht es zu Ihrem Gastbeitrag.

Kommentare

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Diemer Manuela (nicht überprüft) am Di, 22.12.2020 - 11:22 Link

Zuversicht, Trost, Kraft finden, wo sonst, wenn nicht in einer Kirche? Es ist nicht Gott gewollt, in Krisenzeiten mit herabhängenden Schultern und Mundwinkel den Blick stets zum Boden gerichtet, durch die(se) Zeit zu gehen! Es gibt am Ende eines jeden Tunnels immer ein Licht und auf das warten wir, dem sehen wir mit Zuversicht entgegen - Beginn: JETZT! So, dann wünsche ich allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest, auf das mit einem Gläschen "Champgner" angestoßen werden darf :)

Tobias Knötig (nicht überprüft) am Mi, 16.12.2020 - 14:22 Link

Sehr geehrter Herr Kennedy Henkel.

Ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken. Sie sprechen mir aus der Seele. Auch ich habe mich nicht von der Angst lähmen lassen und geschaut was geht, um gemeinsam Glauben leben zu können. Doch ich habe von außen manche Kritik hinnehmen müssen.
Doch es geht und dann wird Kirche auch wahrgenommen, selbst wenns mal nur anders geht.
Vielleicht hat aber Martin Luther doch richtig übersetzt "bei den Menschen, die guten Willens sind".
Ich wünsche Frohe Weihnachten!

Michael Robert (nicht überprüft) am So, 13.12.2020 - 09:29 Link

Solange Gottesdienste nicht untersagt sind, sollten diese in den Kirchen grundlegend und reichlich gefeiert werden - mit Platzreservierungen und in kleinen Formen, dazu mit landesweiten digitalen Angeboten als Ergänzung für die Daheimgebliebenen. Und das nicht nur am Vorfestabend, sondern an den beiden eigentlichen Festtagen, an Silvester, Neujahr und Epiphanias, am besten mehrfach täglich und auch zwischen den Jahren. Kirche muss ständig da sein in der Krise, eine Gebetskette bilden, Fürbitte leisten, trösten und ermutigen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Gerhard Baumgärtner (nicht überprüft) am So, 13.12.2020 - 08:25 Link

Präsenzgottesdienste an Weihnachten trotz(t) Corona. Im Nachhinein ist man(n) schlauer. Auf jeden Fall Präsenzgottesdienste, was sonst. Zusätzlich digitale Gottesdienste (nicht wieder jede Kirchengemeinde ihr eigenes Süppchen kochen). Einer im Dekanat genügt. Muss auch den Anforderungen an digitale Gottesdienste entsprechen. Allerhöchstens eine halbe Stunde. Viel Musik. Beispiel können wir uns an den Rundfunkgottesdiensten nehmen, die jahrelang erfolgreich nach diesem Muster laufen.
Die Kirche ist für alle ihre Mitglieder und darüber hinaus da.
Im Frühjahr argumentiere man mit der Fürsorgepflicht. Mir leuchtete das ein und ich schloss mich dieser Argumentation an.
Im nachhinein gesehen, war das zu kurz gesprungen. Selbst bzw. von der Kirchenleitung auferlegter Zwangsurlaub. Der Job des Pfarrers ist es hauptsächlich das Wort Gottes zu verkündigen. Dazu gehört selbstverständlich als Kernaufgabe der Gottesdienst und seine Schäfchen seelsorgerlich zu betreuen.
Im Rückblick haben wir bei den beiden Hauptaufgaben großteils kläglich versagt. Damals war die Lage neu und unübersichtlich.

Das ist sie jetzt nicht mehr. Dafür wird es jetzt ziemlich eng, was das Ganze nicht einfacher macht.
Die Krankenhäuser schlagen Alarm.
Haben wir lauter unmündige Schäfchen oder können unsere Kirchenmitglieder selbst verantortungsvoll entscheiden? Das ist die Kernaussage, wovon sich alles weitere Handeln ableitet.

Ich gehe von einem mündigen Christen aus, der von den Medien mehr wie genug informiert um nicht zu sagen penetriert wird. Er kann selbst entscheiden ob er den Gottesdienst besuchen will oder nicht, angesichts der angespannten Lage. Das eine Einladung zum Gottesdienst einen fast verpflichtet oder zumindest ein schlechtes Gewissen macht ist die Denke von Vorgestern.

Bei der Einladung zum Gottesdienst würde ich extra auf die angespannte Lage hinweisen und unter peinlicher Einhaltung aller AHA-Regeln zu diesem einladen.
Der Satz: "Jeder möge doch für sich das Richtige entscheiden. Für individuelle Seelsorge stehen wir Ihnen gerne telefonisch (oder auch tatsächlich- das soll der jeweilige Pfarrer entscheiden) zur Verfügung.

Eine besinnliche und gesegnete Weihnachtszeit.
Seien Sie behütet und bleiben Sie gesund.
Ihr
Gerhard Baumgärtner
Altsynodaler seit 9.20

Pfarrerin Simo… (nicht überprüft) am So, 13.12.2020 - 00:20 Link

In vielen Dingen gebe ich Ihnen Recht. So lange Präsenz-Gittesdienste zugelassen sind, bieten wir sie an.
Zu Ihrer Scham bezüglich des angeblichen Rückzugs aus Altenheimen und Krankenhäusern: In kirchlichen Häusern stand Seelsorge nie in Frage. In allen anderen Häusern sind wir auf fremden Terrain. Kolleg*innen wurden aus Altenheimen wie andere Besucher*innen ausgesperrt. Die Verunsicherung auf allen Seiten war groß. Als Klinikpfarrerin kam ich im Frühjahr in die Situation, von Pflegekräften einer onkologischen Station zunächst gerufen worden zu sein und im nächsten Moment wieder ausgeladen zu werden - in Sorge um die Patient*innen mit geschwächten Immunsystem. Ich habe mein Besuchsrecht nicht durchgefochten, will ich doch auch in Zukunft mit diesen Mitarbeiter*innen zusammenarbeiten. Nach und nach bin ich auf die Stationen gegangen und wurde vielerorts dankbar willkommen geheißen.
Zu Ihrem Vorschlag hygienisch gut ausgerüstet Besuche machen: Haben Sie Mal in voller Montur einen Seelsorgebesuch gemacht oder mal versucht mit FFP-2-Maske ein Seelsorgegesprach zu führen? Z.B. mit schwerhörigen Patient*innen, die ihrerseits nicht in der Lage sind eine Maske zu tragen? Oder ohne Kittel nur mit FFP-2 mal psychiatrisch Erkrankte besucht, denen es schwer fällt Abstände einzuhalten? Es ist noch anstrengender als sonst, und es bedarf eine äußerst eigenverantwortliche Haltung seine eigene Sicherheit nicht in Gefahr zu bringen und die der anderen Menschen, denen man sonst noch in einer Arbeitswoche begegnet.
Darüberhinaus möchte ich zu bedenken geben, wieviele Menschen auch ohne Corona alleine sterben - und auch gar nicht kirchlich begleitet werden wollen. Das ist nicht nur ein seelsorgliches Probem, sondern nach meiner Meinung ein gesamtgesellschaftliches.

Mich (nicht überprüft) am Sa, 12.12.2020 - 21:45 Link

Massenbetrieb am Hl. Abend ist tatsächlich gefährlich. Müsste nicht deutlicher gesagt werden, dass das Weihnachtsfest sogar aus zwei vollen Feiertage besteht und die Weihnachtszeit noch viel länger dauert? Warum nicht überspannend eine Reihe kleinerer Gottesdienste anbieten, jeweils mit Platzreservierung, Kurzpredigt, Weihnachtsliedern zum Mitsummen und sonst viel trostvoller Musik? Macht Arbeit, ist aber notwendig. Kirche muss kraftvoll auftreten in der Krise, sich vor Ort zeigen, im Rahmen des Erlaubten. Digitale Formate sollten ergänzen, nicht ersetzen.

Eckhard Krause (nicht überprüft) am Sa, 12.12.2020 - 15:02 Link

Die Kirchen sollen in dieser Krise mehr Zuversicht zeigen. Gottesdienste sollten sein.
Es wird niemand stören, wenn die Texte nicht gesungen werden. Die Botschaft der Lieder kann auch in die Herzen eindringen, wenn sie nicht mehr gesungen sondern nur gespielt werden.