Augenyoga und St. Sebald im Advent

Augenyoga, lese ich auf einem Werbeblatt. Haben Sie schon mal von Augenyoga gehört? Ich finde, es klingt ein bisschen verrückt, aber es interessiert mich. Mehr Präsenz, Klarheit und Gesundheit für die Augen und ein Leben ohne Brille verspricht die Methode. Hm. Also, ich trage seit meinem 3. Lebensjahr eine Brille, das wird vermutlich so bleiben - und es stört mich auch nicht. Nur seitdem ich auf Gleitsichtgläser umgestiegen bin, merke ich, die Augen sind angestrengt. Ich muss mehr beachten und bewusster schauen. Darum gefällt mir die Idee, den eigenen Augen etwas Gutes zu tun. Vielleicht entspannt sich dann mein Blick oder schärft sich. Und ich könnte anders durchs Leben gehen. Verändert. Besser sehen, weiter sehen.

Die Adventszeit ist eine Art Sehschule. Auf eine besondere Weise. Sie lenkt den Blick auf einen neuen Anfang. Auf den, der da kommt, heißt es in der Bibel. Siehe, dein König kommt zu dir. Heute am 1. Adventssonntag, lade ich Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, für einen Moment in meine Lieblingskirche ein: St. Sebald in Nürnberg. Die riesige Sandsteinkirche steht da seit vielen hundert Jahren, neben Rathaus, Hauptmarkt und Kaiserburg. Gäste aus aller Welt und Stadtspaziergänger besichtigen und besuchen sie. Und zünden Kerzen an. Beten vielleicht, werden still. Oder sie interessieren sich für das Grabmal des Stadtheiligen, des Heiligen Sebald.  Und dann ist da Maria. Unübersehbar oft, sehr präsent, wunderschön, ganz Himmelskönigin, ganz junge Mutter. Sie hält allen das Kind hin. Nur darum geht es. Ihr. Und hier. Und im Advent.

Draußen rund um die Kirche herrscht gemütliche Vorweihnachtsstimmung. Es riecht nach Lebkuchen, Glühwein, Bratwürstchen. Menschen mit blinkenden Weihnachtsmann-Mützen sind unterwegs. Am Freitagabend vor dem 1. Advent tritt das Christkind auf und eröffnet den weltberühmten Nürnberger Christkindlesmarkt. Ich kenne eine ältere Dame, die in Nürnberg aufgewachsen ist, die begibt sich seit ihrer Kindheit jedes Jahr in das Gedränge zur Eröffnung. "Ich brauch das", sagt sie, "sonst wird´s für mich nicht Advent."  Und da ist sie nicht die einzige.

Sie hat darauf vorgestern verzichten müssen. Wir alle verzichten, wir vermissen viel in diesem Jahr. Und warten, dass es endlich besser wird. Und hoffen.

Die Sebalduskirche hat eine Hoffnungsgeschichte zu erzählen. 1945 nach dem Krieg war sie fast völlig zerstört. Zerbombt, ausgebrannt, ein Trümmerhaufen. Die Glasfenster und Kunstschätze hatten kluge und mutige Leute lange vorher ausgelagert und in den Kunstbunkern gesichert.  Aber der Kirchenraum - hoffnungslos kaputt. So wie das ganze Viertel unterhalb der Burg. Als der Krieg vorbei ist, kann sich niemand vorstellen, diese Kirche wieder aufzubauen. Manche überlegen sogar einen neuen Standort, vielleicht irgendwo außerhalb der Stadt. Wenn überhaupt. Es ist ja offensichtlich: Da ist nichts mehr zu retten. Keine Chance.  Ein hoffnungsloser Fall.

Und dann - ich weiß nicht wie und wann - kommen welche mit einem anderen Blick. Die sehen nicht nur die Trümmer und den ausgebrannten Dachstuhl. Sie sehen mehr, weiter, sie sehen - eine Kirche. Und mit diesem anderen Blick, mit dieser Perspektive fangen sie an, ihre Kirche zu bauen. Die alte neu. Heute sieht sie aus, als wäre sie nie zerstört gewesen. Fast. Wenn ich genau hinschaue, entdecke ich Spuren im Sandstein, Narben, Risse an den Mauern und Wänden. Sie erinnern mich daran, wie wichtig das ist: Nicht aufgeben. Erwartungsvoll leben. Nicht auf das Zerstörte, Hoffnungslose starren, sondern Verheißungsvolles in den Blick nehmen.

Mit Adventsaugen durchs Leben gehen. Dann sehe ich, was möglich ist.Was alles geht. Und wie Gott in diese Welt kommt… wie Gott in mein Leben kommt …. Siehe (!), dein König kommt zu dir.

er-warten

Ich bin mit dem Satz großgeworden: "Erwarte dir nicht zu viel, dann wirst du auch nicht enttäuscht". Meine Mutter hat das immer gesagt, und sie hat es sicher gut gemeint. Sie wollte mich schützen - vor enttäuschten Erwartungen... Aber so geht Leben nicht. Leben erwartet und freut sich. Der alte Begriff für Schwangersein heißt ja: in freudiger Erwartung sein. Sich freuen, ein neues Leben erwarten. Sehr adventlich!

Erwartungsmüde durchs Leben zu gehen, mag vielleicht vernünftig sein, macht aber keinen Spaß. Ist lustlos, freudlos, ungesund. Und gar nicht adventlich. So baut sich aus Trümmern keine neue Kirche. Wenn Menschen erwartungsmüde werden, dann hören sie auf zu hoffen und sie hören auf zu kämpfen. Dann gibt es nur noch hoffnungslose Fälle.

Wie die Kinder, die Systemcrasher heißen. Sie fallen durch alle Raster. Kein Heim, kein Kinderpsychiater, keine Pflegeeltern sind mehr zuständig. Aussichtslos, hoffnungslos.

Oder die sterbenskranke Frau im Pflegeheim… Bis wann lohnt es sich noch, sich zu kümmern? Niemand erwartet mehr, dass alles heilt und gut wird. Aber einen guten Moment erleben, da sein, sich in die Augen schauen. Den Namen aussprechen. Freundlich sein. Das Warten aushalten. Auch das Warten und Hoffen auf den Tod. Das ist Leben in Erwartung, und es kann in allem Schweren sogar freudig sein.

Wenn ich mich zur Zeit so umschaue und Leute beobachte - beim Schlangestehen vorm Bäckerladen oder an der Haltestelle, dann finde ich, wir alle schauen etwas müde aus der Wäsche - und müde in die Welt. Erwartungsmüde. Klar, das ist auch dieser Blick oberhalb von Mund-Nase-Schutz. Wenn jedes Lächeln Maske trägt. Und alle warten. Auf neue Regelungen, auf neue Prognosen, auf den Impfstoff. Wir warten, dass der ganze Spuk irgendwann vorbei ist. Das Maske-Tragen verbindet uns miteinander. Und das Warten. Es verbindet uns mit den Allernächsten und mit Wildfremden. In der ganzen Welt.

Warten - das ist auch das Thema Nummer 1 im Advent.

"Ich spüre ein ungeheures Warten in der Christenheit, das in der Gegenwart geradezu fieberhaft geworden ist. Wir haben die Verheißung, dass wir nicht umsonst warten, aber wir warten schon sehr ungeduldig. Nun ist es für den Wartenden ein großer Trost, wenn er merkt, dass auch andere warten, und eine große Erquickung, wenn ein Gespräch zwischen den Wartenden entsteht. Keiner von ihnen weiß mehr als der andere; keiner kann die Uhr vorstellen. Alle müssen es erleiden. Aber jedes Wort, das sie miteinander reden, versüßt das bittere Warten und - und das ist das große Beglückende - beschleunigt die Stunde. Das ist der Advent."[1]

Das sind Worte aus einem 80 Jahre alten Adventsbrief. Sie klingen auf Corona bezogen sehr aktuell. …keiner kann die Uhr vorstellen…alle warten - und es ist wichtig, dass wir aufeinander achten, dass es Gespräche zwischen den Wartenden gibt… -  Du wartest nicht allein. Auch wenn es sich allein anfühlt.  Wir sind gemeinsam einsam. Und tauschen uns darüber aus - vielleicht auch nur am Telefon, oder auf Instagram oder per E-mail. Teilen Sorge, Ungeduld und Frust miteinander.

Und dann freuen wir uns darauf, dass diese dunklen Tage vergehen werden. Davon singen Mumford & Sons, vom Warten und Sehnen - und das klingt richtig gut gelaunt.

Im Englischen gibt es die Formulierung: to look forward to - sich freuen - auf etwas. Wortwörtlich: Nach vorne schauen, auf etwas, zu etwas hin. Sich Freuen hat also mit Sehen zu tun… Ich warte, ich halte Ausschau - und freue mich. Diese Qualität des Wartens wünsche ich mir. Nicht quälend warten, nicht ungeduldig sondern - erwartungsvoll. Die Wartezeit selber schenkt mir etwas - eine Ruhepause oder einen Ideenschub oder einen neuen Blick. Ich entdecke etwas, was ich sonst immer übersehen habe, einfach weil ich auf einmal Zeit habe, hinzuschauen. Ich muss ja warten.

Im Advent kommt beides zusammen. Ich warte und freue mich - tatsächlich auch ganz einfach auf Weihnachten. So wie viele.  Aber da ist noch ein anderes Warten. Eins das immer zum Leben dazugehört - und zum Erwachsensein.

"Das Leben besteht aus Warten, das Warten nennt man Leben. Warten ist Gegenwart. Das generelle Verhältnis des Menschen zur Zeit. Warten zeichnet Gottes Umrisse an die Wand."[2]

Ich habe das im Sommer in einem Buch von Juli Zeh gelesen. Seitdem begleitet mich dieser eine Satz.: Warten zeichnet Gottes Umrisse an die Wand.

Gottes Umrisse, das sind auch meine Bilder von ihm, meine Bekenntnisse und meine vorsichtigen Glaubensversuche… Wie sehen sie aus, meine Bilder und Worte, die Umrisse auf der Wand meines Lebens? Was erkenne ich von Gottes Gegenwart in meiner Lebens-Warte-Zeit… Warten zeichnet Gottes Umrisse an die Wand. Ein Umriss ist sternenförmig, Licht in der Finsternis, Licht der Welt Ein Umriss ist der Bauch einer jungen Frau, der sich wölbt - Ein anderer hat die Form einer Futterkrippe - Ein Kreuz sehe ich und einen Laib Brot, gebrochen, geteilt -Ich sehe ein Schiff geladen, das Menschen vor dem Ertrinken rettet. Und ich sehe einen König auf einem Esel.

Du, Tochter Zion, freue dich sehr,

und du, Tochter Jerusalem, jauchze!

Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer,

arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. (Sach 9, 9)

Siehe, dein König kommt zu dir

Dieses Bild vom Friedenskönig auf dem Esel ruht zuverlässig in den Herzen, in der Erinnerung, wie in der DNA des Volkes Israel. Es ist ein starkes Hoffnungs-Bild, die Utopie und Vision vom Frieden. In Katastrophen- Zeiten kramen sie es heraus, holen es aus ihren Herzen hervor. Sie nehmen die Worte in ihre rissigen Hände und singen sie neu. Sie halten sie sich und anderen vor Augen:  Hier! Da kommt noch was. Der König - zu dir. Einer, der das alles kennt.

Und später erzählen sie so von Jesus. In den Evangelien. Sie sehen in ihm den König, der da kommt. Auf ihn warten sie. Warten zeichnet Gottes Umrisse an die Wand. Hier vor den Häuserwänden von Jerusalem bekommen die Umrisse das Gesicht von Jesus. Die alte Verheißung flammt neu auf. Die Umrisse füllen sich mit Leben und bleiben zugleich offen und frei. Für alle Verheißung und Vorfreude. 

Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.

Diese Geschichte ist in allen evangelischen Gottesdiensten am 1. Advent zu hören. Und ebenso am Palmsonntag, wenn die Karwoche beginnt: Jesus zieht in Jerusalem ein, wird wie ein König empfangen und gefeiert und kurz danach verhaftet, verspottet, gefoltert, getötet.

Mich hat diese Lesung vom Einzug in Jerusalem früher immer irritiert. Am 1. Advent - da wollte ich lieber was von Maria und dem Engel hören, und von Josef, von Schwangerschaftsgeschichten, ein vierwochenlanges schönes Vorspiel hin zum Krippenspiel. Frei nach dem Kinderbuch "Marias kleiner Esel". Wie der Esel mit ihnen aufbricht zur Reise nach Jerusalem, und schließlich in Bethlehem landet. Wie er an der Krippe im Stall steht - live dabei. Und später Millionen mal abgebildet. Stattdessen: nix mit niedlicher Vorweihnachtsstimmung. Eine ganz andere Geschichte, ein anderer Esel. Prophetisch, friedensbewegt und provozierend. Und irgendwie erwachsen.

Ja, diese Geschichte irritiert im Advent. Und das soll sie. Sie mutet mir etwas zu. Ihre Bilder brechen die Adventskalender-Bilderwelt. Über den Süßer-die-Glocken-nie-klingen-Klangteppich schreitet der Esel und trägt Jesus auf dem Rücken. Seltsam würdevoll und ernst.

Advent, liebe Hörerinnen und Hörer, ist ernst. Er ist nicht ernst wie eine Krankheit, bei der wir uns Sorgen machen, ob es was Ernstes ist. Der Ernst des Advents ist eher wie der Ernst in der Liebe. Wenn Liebende sagen: Ja, wir meinen es ernst. Dann heißt das: Das ist keine Liebelei, kein kurzer Schwarm – sondern etwas Echtes, Tiefes, Ernstes. Von diesem Ernst ist der Advent Gottes. Auch ein Kind zu erwarten ist eine ernste Angelegenheit. Jesus zu erwarten ist eine ernste Angelegenheit. Für Maria. Und für Josef. Und für uns.

Gott meint es ernst mit uns, mit seiner Welt. So kommt er zur Welt. Als Kind und als König auf dem Eselsrücken. Wie ein Herrscher und Richter zieht Jesus ein. Wie einen Herrscher und Richter erwarten ihn die biblischen Worte vom großen Advent. Wenn Jesus kommt, alle Welt zu richten und zu retten. Wenn Gott ernst macht mit seiner Liebe.

Siehe, dein König kommt zu dir!

Ein Gerechter. Ein Helfer, der die schweren Wege kennt, die Stolperfallen und Gefahren. Kein Kinder-König, kein Märchen-König. Seine Königskrone ist aus Dornen. Und gerade deshalb: 

Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze!

Tochter Zion, Tochter Jerusalem - das ist in poetischer Sprache ganz Jerusalem, alles Leben dort. Und - alle, die auf Jerusalem und den Nahen Osten schauen, die sich sehnen oder sorgen. Tochter Zion, Tochter Jerusalem sind keine kleinen Kinder mehr. Der König kommt zu erwachsenen Töchtern und Söhnen. Zu dir, Jerusalem - mit deinem Tempelberg, deinen Religionen und Glaubensgeschwistern, die sich so schwer tun, das Zusammenleben zu lernen und über ihre Friedensversuche stolpern.

Siehe, dein König kommt zu dir! Tochter Jerusalem - und zu all den anderen Geschwistern - zu dir, Washington - und überall dorthin, wo Machtkämpfe und politische Thronnachfolgen geschehen. Siehe, dein König kommt zu dir, Leipzig, Berlin - und überall dorthin, wo Begriffe wie Widerstand und "Querdenken" missbraucht werden, um einfach nur rücksichtslos Pandemie-Regeln zu missachten. Und zu dir, in deine Stadt, an deinen Ort, in dein Leben, wo es nur nach außen hin adventlich geschmückt ist und innen drin ist alles trübe und leer. Willkommen in meiner Welt - komm, König, zieh ein!

Ja, das erwarten wir im Advent: Dass Gott zur Welt kommt. Auf diesen Friedenskönig zu warten, ist ein sehr erwachsener Blick auf alles, was in der Welt geschieht. Dieses Warten verändert. Dann sehe ich keine hoffnungslosen Fälle. Dann schaue ich mit Adventsaugen… Und male nicht den Teufel an die Wand, sondern suche geduldig nach Gottes Umrissen.

Und langsam, so langsam wie der Esel kommt, trittsicher auf schwierigem Gelände, unbeirrbar durch die glitzernd geschmückten Straßen der Stadt, so ruhig und geduldig lerne ich zu warten. Auch auf die Freude, die sich nicht sofort einstellt. Vom Jauchzen ganz zu schweigen. Wer kann schon jauchzen gerade?

Das Ächzen beherrschen wir als Erwachsene viel besser. Es ist das Gegenteil vom Jauchzen. Ächzen kommt von Ach. Und Jauchzen von Juhu. Und das ist ein Weg im Advent. Immer wieder. In allem Warten und Leben. Vom Ächzen zum Jauchzen.


[1] Joseph Wittig, Vom Warten und Kommen. Adventbriefe, Leipzig 1939, S. 5 zitiert in: Warten als Kulturmuster, hrsg. von Daniel Kazmaier, Julia Kerscher, Xenia Wotschal; Königshausen & Neumann Würzburg 2016.

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Margareta Rosenstock (nicht überprüft) am So, 29.11.2020 - 16:43 Link

Sehr geehrte Frau Rittner-Kopp ,

vielen Dank für diese ergreifende Predigt , diese bewegende Gedanken. Hat mich höchst beeindruckt. Ich wünsche Ihnen eine freudenvolle Zeit des Wartens, einen gesegneten Advent,

mit freundlichem Gruß aus Greifswald, Margareta Rosenstock.