"Was wird sein in einem Jahr, liebe Hörerinnen und Hörer?"  Was wird sein, wenn wir Gottesdienst feiern am 4. Advent 2021?

In einem Jahr wird sich erledigt haben, womit wir jetzt kämpfen.

In einem Jahr gibt es einen Impfstoff für alle, die ihn brauchen.

In einem Jahr werden wir Advents- und Weihnachtsgottesdienste feiern, wie wir es gewohnt sind: mit Musik und Gesang, eng beieinander, mit unverhüllten Gesichtern.

In einem Jahr werde ich die Menschen, die ich liebe, in die Arme nehmen können.

In einem Jahr interessieren die Tweets von Donald Trump keinen mehr.

In einem Jahr sind die Grenzen wieder offen.

In einem Jahr sehen alte und sterbende Menschen in freundliche Gesichter, spüren die Wärme der Hand, hören beruhigende Worte.

In einem Jahr…wirklich? Es ist doch immer noch nicht vorbei. Wir haben uns durchs Frühjahr geschleppt mit der Hoffnung auf den Sommer, wir haben den Sommer verbracht mit der Hoffnung auf den Herbst, wir sind durch den Herbst gewandert mit der Hoffnung auf Weihnachten - und jetzt… Hoffnung auf das Frühjahr?

Was wird in einem Jahr sein?

Solche Fragen stellen sich gerade viele, junge, alte… Ich denke im Moment oft an die alten Menschen, die mir am Herzen liegen. Ich frage mich, was in ihnen vorgeht, wenn ihnen heute jemand sagt: in einem Jahr ist alles anders….Genau heute, in einem Jahr…. Werden sie das überhaupt noch erleben?

Bliblische Geschichte von Sara und Abraham

Eine biblische Geschichte erzählt von zwei alten Menschen, denen genau das widerfährt. Gott persönlich sagt ihnen: In einem Jahr ist alles anders…

Da sitzen Abraham und Sara um die Mittagszeit im Hain zu Mamre. Ein paar Bäume geben Schatten. Über dem Land liegt diese flirrende Mittagshitze, bei der man nicht erkennen kann, ob das, was da am Horizont zu sehen ist, ein Mensch ist oder drei, oder ein Tier, ein Felsbrocken oder einfach nur zitternde Luft.

Schläfrig sind die beiden - und doch irgendwie auch hellwach…. Die Mittagszeit ist schon immer die Zeit der Offenbarungen gewesen. Hören Sie das, was dann geschieht in den alten Worten der Bibel:

Gott erschien Abraham im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war. Und als er seine Augen aufhob und sah, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Und als er sie sah, lief er ihnen entgegen von der Tür seines Zeltes und neigte sich zur Erde. Und sprach: habe ich Gnade vor deinen Augen gefunden, geh nicht vorüber…. … Da sprachen sie zu ihm: Wo ist Sara, deine Frau? Und er antwortete: Drinnen im Zelt. Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben.

Das hörte Sara, hinter ihm, hinter der Tür des Zeltes. Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, sodass es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise. Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun, da ich alt bin, soll ich noch Liebeslust erfahren, und auch mein Herr ist alt.

Da sprach Gott zu Abraham: Warum lacht Sara und spricht: sollte ich wirklich noch gebären, nun, da ich alt bin? Sollte Gott etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen übers Jahr; dann soll Sara einen Sohn haben.

Da leugnete Sara und sprach: ich habe nicht gelacht -  Denn sie fürchtete sich.

Aber er sprach: Es ist nicht so, du hast gelacht.

In einem Jahr soll eine alte Frau ein Kind haben? Sara lacht. Sie kann nicht anders. Kurz darauf würde sie ihr Lachen am liebsten wieder runterschlucken. Nein, nein, ich hab gar nicht gelacht…. Gott hört es trotzdem. Du hast gelacht - sagt er….  Gott präsentiert ihr und uns dieses Lachen wie auf einem Silbertablett präsentieren: Es ist nicht so. Schau hin, hör hin: du hast gelacht!

Wenn man die Geschichte von Abraham, Sara und ihrem Sohn Isaak genau anschaut, merkt man, dass sie geradezu um Saras Lachen herumerzählt wird. Dieses Lachen verbindet die drei Menschen untereinander und mit Gott. Alles, was hier von ihnen erzählt wird, kreist um das Lachen als geheimer Mitte.

Als Abraham von Gott erfährt, dass seine Frau Sara ein Kind bekommen soll, lacht er.

Als Sara, hinter einer Zeltplane verdeckt, die Botschaft der Männer erlauscht, lacht sie.

Und ihr Kind, so sagt Gott, sollen sie Isaak nennen. Das bedeutet: Gott hat jemanden zum Lachen gebracht…

Die Theologen haben sich die Finger wund geschrieben über die Bedeutung von Saras Lachens. Verbittert? Resigniert? Ungläubig? Überrascht? Oder der silberhelle Klang lange verleugneter erotischer Lust?

Biblische Geschichte: Alle Gefühle sind "erlaubt"

Sara hat ihr Leben lang einen großen Wunsch, eine sehnliche Erwartung gehabt: ein Kind! Ihr Leben war ein Warten auf den ersehnten Sohn - über diesem Warten ist sie eine alte Frau geworden, deren sehnlichster Wunsch nicht erfüllt worden ist. ….   Nun ist sie neunzig und hört: In einem Jahr ist alles anders. Und sie lacht. Warum eigentlich? Das ist ja nichts komisch an diesem Satz. Da werden keine Witze erzählt. Wo soll denn da die Pointe sein?

Vielleicht liegt die Pointe genau darin, wie Gott unsere Wünsche erfüllt. Gott, so hat Dietrich Bonhoeffer einmal gesagt, erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen. Gottes Verheißungen mobilisieren alle unsere Gefühle… Sie bringen uns in Kontakt mit Gott, sie lassen uns fragen und zweifeln, lachen und weinen… sie halten uns wach.

Ich höre heute aus dieser Geschichte: Wenn dir einer sagt: In einem Jahr ist alles anders…. dann schau ganz genau hin, was da in dir passiert. Du brauchst nichts runterschlucken und nichts verschweigen. Alles, was du in diesem Moment fühlst, ist wichtig. Gefühle sind kostbar….  Sie sind kostbar, weil Gott selbst sie auslöst, ja, in Dich hineinlegt. Denn auch Gott schaut ganz genau hin. Gott hört ganz genau hin.

Trauer und Freude, Liebeswonne und Angst vor dem Tod, Weinen und Lachen in all seinen Schattierungen. …. Wir Menschen sind zu tiefen Gefühlen fähig. Sie gehören zu uns. Wir können gar nicht anders. Vielleicht ist die Sache mit dem Lachen gerade deshalb so wichtig, weil es nicht einfach nur um eine Laune geht.  

Gott legt das Lachen in uns hinein. Gerade dann, wenn es uns die Sprache verschlägt, wenn etwas geschieht, wofür wir keine Worte mehr haben, gibt Gott uns im Lachen die Möglichkeit, etwas auszudrücken von dem, was uns gerade bewegt. Das macht das Lachen so kostbar - und das Weinen auch.

Es gibt ja im Moment genug Situationen, wo es hilft, wenn man einfach nur lachen kann. Weil schon alles gesagt ist, weil man eigentlich keine Worte mehr hat, weil man nicht weiß, was man dazu noch sagen soll. Aber Lachen, das geht.

Lachen über den Videoclip von der Katze, die mit strengem Blick und einem schnellen Schlag mit der Pfote eine Plastikfigur von Donald Trump vom Tisch fegt, als wollte sie sagen: Es reicht jetzt, ein für alle Mal.

Lachen über den Kollegen, der einen kleinen Film auf YouTube stellt und uns darin vorführt, wie man "Stille Nacht" singen kann ohne "Stille Nacht" zu singen…

Aber lachen, wenn es um Gott geht? Ich kenne Menschen, die sich in ihrer Beziehung zu Gott überhaupt nicht trauen, irgendwelche Gefühle zu haben. Klar, fromm wollen sie sich schon fühlen, oder gläubig oder durch irgendeine Art von Liebe mit Gott verbunden. Aber dass man diesem Gott gegenüber, der einem eine Menge zumutet und der dann auch noch mit Versprechungen kommt, die zwar die innersten Sehnsüchte anrühren, die man aber beim besten Willen im Moment eher nicht glauben kann, dass man dem gegenüber auch lachen darf, ungläubig oder staunend, überrascht oder verbittert, resigniert oder mit der leisen Hoffnung, dass sich doch noch etwas erfüllt, wonach man sich so sehnt… das können die meisten schwer fassen.

Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat mit all meiner Fähigkeit zu fühlen und diese Gefühle auszudrücken. Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt. Höchste Lust und tiefstes Erschrecken… Nichts von dem, was in mir ist, ist Gott fremd. Und ich glaube, dass ich ihm deswegen auch alle meine Gefühle zumuten kann, nicht nur die, die lieb und fromm daherkommen.

Heimsuchung von Maria

Im Advent muss deshalb auch noch die Geschichte einer anderen Frau erzählt werden, die um die Mittagszeit Besuch von Gott bekommt:

Der Engel Gabriel wurde von Gott gesandt zu einer jungen Frau, die Maria hieß. Und er kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete. Der Herr ist mir dir. Sie aber erschrak über die Rede und dachte: welcher Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und eine Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben.

In einem Jahr… Ich stelle mir die beiden Frauen vor, als wären sie auf die zwei Flügel eines alten Altars gemalt: die alte Frau und die junge Frau, die Engel, das Zelt, das Haus, der Schrecken und die Verheißung: in einem Jahr… Und auf einmal klingt in der Geschichte der Maria, die sich erschrocken und ungläubig abwendet wie ganz von ferne etwas von dem versteckten Lachen der Sara hinter ihrer Zeltplane….  Und noch etwas verbindet diese beiden Geschichten.

Beide, Sara und Maria, erleben etwas, das man mit dem altmodischen Wort "Heimsuchung" beschreiben kann.

Heimsuchung - das wünscht sich eigentlich niemand. Heimsuchungen sind schreckliche Ereignisse, die einen überfallen und denen man nicht ausweichen kann: Überschwemmungen, Kriege, Pest und Cholera. "Das ist aber auch eine Heimsuchung!", hat meine Großmutter manchmal kopfschüttelnd gesagt, wenn sie in der Zeitung mal wieder von Hungersnöten und Dürreperioden in der Sahelzone lesen musste… 

Lange haben Menschen solchen Schicksalsschlägen Sinn abgewonnen, indem sie sie wenigstens als Strafe Gottes verstanden haben.  In seinem Buch "Die Pest" schildert Albert Camus die Seuche, die eine ganze Stadt heimsucht, als ein Ereignis, das gar nichts mit Gott zu tun hat. Es ist einfach ganz und gar sinnlos.

Recht, Unrecht, Gerechtigkeit – solche Kategorien zählen bei der Pest nicht, sie tötet einfach. Heimsuchungen, sagt Camus, sind nicht erklärbar, sie sind ohne Logik, sie sind sinnlos. Die Situation ist grausam, absurd. Die Pest ist eine endlose Niederlage. Sinn macht nur, sich zusammenzutun und dagegen zu kämpfen. Das jedenfalls ist die Erfahrung des Arztes Rieux und seiner Freunde. Sie tun sich zusammen. Sie helfen als Sanitäter anderen, sie üben sich in Solidarität. Sinn und menschliche Freiheit entstehen genau in dem Moment, in dem das Handeln von Menschen im Kampf gegen die Seuche über das kleine betroffene Ich hinausgeht. Wenn Menschen sich zusammentun, gemeinsam Verantwortung übernehmen, mit Mut, Verstand und Solidarität.

Vernünftig und solidarisch zu handeln, das ist Menschen möglich und es ist die einzige Möglichkeit eines sinnerfüllten Lebens. Oder, um es mit Albert Camus’ Hauptperson Rieux zu sagen: "…er wollte schlicht schildern, was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich, dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt."[1]

Heimsuchungen sind Herausforderung für unsere Menschlichkeit, unsere Vernunft und unsere Solidarität … mir gefällt dieser Gedanke, gerade jetzt.

Und wie ist das mit Gottes Heimsuchungen? Gott sucht uns daheim, so hat ein Theologe das Wort "Heimsuchung" einmal übersetzt.

Aber wer will das denn wirklich, dass Gott einen sogar daheim sucht, hinter verschlossenen Türen, hinter dichten Zeltplanen? Wer will denn schon, dass Gott sogar die tiefsten Gefühle kennt und spürt und aufdeckt und einem auf dem Silbertablett serviert?

Will ich so heimgesucht werden - oder will ich mich nicht eher dagegen wehren, wie Sara das tut mit ihrem Lachen und Maria mit jener elegant-abwehrenden Geste ihrer Hand, die so oft auf alten Bildern auftaucht? Und wie kommt es dann eigentlich dazu, dass es doch geschieht, dass doch so etwas wie ein Ja, eine Einwilligung zustande kommt?

Ich glaube nicht, dass dieses Ja zu dem, was Gott da verheißt, eine willentliche Entscheidung ist. Als könne man – wenn man nur fromm genug ist – doch irgendwie ja sagen zu dem, was Gott einem so zumutet bei seinen Heimsuchungen…

Bitte um Heimsuchung heißt ein Gedicht von Albert von Schirnding. Ganz zart deutet er darin an, da wir, die wir in unseren Verstecken sitzen, uns danach sehnen, gefunden zu werden … Das Gedicht erinnert an Erfahrungen, die jedes spielende Kind kennt: Da rennt man davon und versteckt sich - und irgendwann ist das Spiel aus und keiner hat einen gefunden… Man rief nicht mehr. Ich wurde vergessen / unauffindbar hinter der Hecke im Park…. Lass mich in Unfrieden endlich Spür mich auf…[2]  Das Ja zur Heimsuchung wurzelt in der großen Sehnsucht, gefunden zu werden von Gott.

Du hast Gnade gefunden

In den Geschichten von Abraham, Sara und Maria hat Heimsuchung noch einen besonderen Klang. Wenn Gott Sara, Abraham und Maria daheim besucht, dann hat das etwas mit Gnade zu tun. Dann erlebt man so etwas wie Gnade.

Lass mich Gnade vor deinen Augen finden und komm in mein Zelt - bittet Abraham die drei geheimnisvollen Besucher, und damit Gott selbst, der sich in der Mittagshitze dem Zelt nähert. Und der Engel, der da mitten ins Zimmer platzt ist, sagt zu Maria: Fürchte dich nicht, du hast Gnade gefunden bei Gott…

Wie passt das zusammen, Gnade und Heimsuchung? Krieg, Pest, Cholera, Covid 19 und alles Mögliche andere, was Menschen zutiefst erschrecken kann, das sind Heimsuchungen, die sich nicht schönreden lassen. Es sind Schicksalsschläge, die für viele durch menschliche Dummheit, Gier und Machthunger noch schlimmer gemacht werden als sie ohnehin schon sind. Das Wort "Gnade" kommt einem da nicht über die Lippen.

Und dennoch: In dem Wort "Heimsuchung" schwingt auch die Erfahrung, dass es mitten im Schrecken Momente kostbarster Gottes-Begegnungen geben kann. Die Geschichten erzählen von flüchtigen Engel-Momenten, aus denen Menschen bei allem Schrecken getragen und gestärkt hervorgehen.

Ich werde sie deshalb nicht so schnell vergessen, die vier älteren Frauen, mit denen ich mich im Oktober getroffen habe. Wieder ins Gespräch kommen, nach langen Wochen der Distanz und der Isolation. Es sollte um die Erfahrungen der zurückliegenden Monate gehen und um mehr. Ich war skeptisch. Ob Frauen, die sich nie vorher gesehen hatten, miteinander ins Gespräch kommen würden über ihre ganz privaten und persönlichen Gefühle und ihr Erleben in den letzten Wochen?

Und dann war es auf einmal ganz einfach. Sie kannten sich nicht - aber alle hatten in den letzten Jahren schwere Depressionen durchlebt. Jetzt tauschten sie sich über ihre Corona-Erfahrungen aus - und waren sich einig: Wer es durch die dunklen Zeiten einer Depression geschafft hat, der hat weniger Angst vor Corona. Den Tag strukturieren, so gut es geht, auf die eigenen körperlichen Bedürfnisse achten, sich an ganz kleinen Dingen freuen…. Das haben sie unter schweren Bedingungen gelernt - und es hat ihnen auch durch die Corona-Zeit geholfen…. Und davon haben sie einander und mir erzählt, mal lachend und mal mit Tränen in den Augen, mal mit Seufzen und mal mit einem kleinen, perlenden Kichern, wenn einer wieder etwas eingefallen war, womit sie der Dunkelheit ein Schnippchen geschlagen hatte…

Dass ich den Zumutungen und Schreckens des Lebens nicht nur ausgeliefert bin, sondern dass ich diesen Zumutungen auch noch andere Facetten abgewinnen kann, ist eine kostbare Erfahrung. Ob ich in diesem Wissen mir und anderen kleine Engel-Momente bereiten kann? Einander suchen und finden und herausrufen auf den Weg, der vor uns liegt. Und uns gegenseitig ein "Fürchte dich nicht!" zuwispern. In einem Jahr ist alles anders.

 

[1] In: Albert Camus, Die Pest. S. 202.