Eine gnadenlose Pandemie, die unbarmherzig Opfer fordert: Aber zugleich sollen wir an einen "barmherzigen Gott glauben? Die Jahreslosung für 2021 steht im Lukasevangelium, 6,36. Aber sie klingt wie ein frommer Deckel, der viel zu klein ist, um einen großen Topf voller brodelnder Fragen zu schließen.

Wie kann man noch an einem barmherzigen Gott glauben, wenn es doch so viel Leid gibt? Für aufgeklärt denkende Menschen ist diese Frage nicht neu. Mit aller Wucht hat sie sich wohl zum ersten Mal im November 1755 gestellt.

Über Lissabon schien damals warm die Sonntagssonne. Viele Menschen waren im Gottesdienst, als auf einmal ein Vibrieren zu spüren war: Die Erde bebte. Wie von Zauberhand zog sich kurz darauf das Meer aus dem Hafenbecken zurück, um Minuten später in Form einer gewaltigen Flutwelle die Kais und die Uferstraßen zu überfluten. Die prachtvolle Stadt wurde nach einem Seebeben Opfer eines Tsunami.

Corona 2020: Das Risiko wurde unterschätzt

Doch die meisten Menschen in Lissabon waren davon zunächst nicht betroffen. Nur wenige, direkt am Wasser liegende Häuser wurden zerstört. Das erinnert an den Februar 2020: Als uns die ersten Nachrichten über einen neuartigen Virus in China erreichten, dachten auch wir, dass diese Gefahr uns nicht betreffen würde. Corona in Wuhan? Wir hatten das Gefühl, weit weg und glücklich davon gekommen zu sein.

Doch die Bewohner von Lissabon hatten das Risiko unterschätzt. Kochfeuer und umstürzende Lampen entfachten nach dem Erdbeben an verschiedenen Stellen kleinere Brände. Erst sah die Situation beherrschbar aus. Doch bald erwies sich die Feuerwehr als überfordert. Die reiche Handelsstadt brannte fast vollständig ab.

Etwa 60.000 Menschen verloren ihr Leben. Auch hier liegen die Parallelen zur Corona-Pandemie auf der Hand. Anfangs gab es einzelne Infektionsherde. Wir hielten das zunächst für beherrschbar. Doch dann wütete der Virus, so wie die Flammen in Lissabon. Es kam zu einer nicht mehr zu kontrollierenden Ausbreitung. Weltweit gibt es inzwischen über 1,5 Millionen Corona-Tote.

"Die beste aller möglichen Welten"

Das Erdbeben von Lissabon erschütterte damals den Glauben "an eine gute Welt." Es wurde zum Argument, nicht mehr an einen gütigen Gott zu glauben. Hatte Gottfried Wilhelm Leibniz die Welt vor der Katastrophe noch als "die beste aller möglichen" bezeichnet, verhöhnte Voltaire nun diese optimistische Philosophie und das positive Gottesbild, aus dem sie sich speiste.

"Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist."

Dieses Bibelwort, aus dem Lukasevangelium (6,36) soll uns nach dem Corona-überschattetem Silvester als Jahreslosung begleiten. Doch dieser Bibelvers wurde bereits vor drei Jahren von einer ökumenischen Gemeinschaft als Jahreslosung ausgewählt. Damals wusste noch niemand, dass dieses Wort in eine Zeit fallen wird, die von einem gefährlichen Virus erschüttert wird.

Kann man von einem Gott, in dessen Schöpfung tödliche Viren und Erdbeben möglich sind, noch sagen, dass er barmherzig ist? Ohne Zweifel: Unsere Erde ist schön und dient der Entfaltung des Lebens – aber sie kann auch beben und Leben zerstören.

Ohne Zweifel: Gott lässt Blumen und Bäume wachsen, lässt Vögel zwitschern und Eichhörnchen klettern – er lässt zugleich aber auch zu, dass es Viren gibt. Wir leben in einer Welt, in der sich relativ gut leben lässt. Aber diese Welt ist nicht das Paradies. Daran erinnert uns die Natur gelegentlich auf schmerzhafte Weise.

Ambivalente Wirklichkeit: Was es heißt, heute an Gott zu glauben

Der kindliche Glaube stößt hier an seine Grenze. Doch wir sind keine Kinder mehr. Auch glaubende Menschen sind heute meistens aufgeklärte und denkende Menschen. Heute an Gott zu glauben, das heißt, sich auf eine ambivalente Wirklichkeit einzulassen.

Ja, wir selber nehmen uns oft die Freiheit, so zu leben, als gäbe es keinen Gott. Dann ist es aber kindisch, immer, wenn wir mit Leid konfrontiert werden, zu schreien: "Gott, wo bist Du denn jetzt?"

Gleich auf den ersten Seiten der Bibel, in der Geschichte von Sündenfall, entscheidet sich der Mensch für die Möglichkeit, so zu leben, als gäbe es keinen Gott. Das macht ihn irdisch. Und zur irdischen Existenz gehört dann eben auch das Leid und der Tod.

"Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist": Für Jesus ist klar, dass uns im Himmel Gottes väterliche Barmherzigkeit erwartet. Jesus verspricht uns nicht den Himmel auf Erden. Sein Glaube ist aber auch kein Vertrösten auf das Jenseits.

Wir brauchen eine "gesellschaftliche Heilung"

Nein, wer glaubt, versucht bereits jetzt nach Gottes himmlische Maßstäben zu leben. Konkret heißt das, wir selber sollen dafür sorgen, dass es möglichst barmherzig zugeht. Insofern ist die Jahreslosung gerade zu Zeiten von Corona eine Einladung zu einem mündigen, sich der Verantwortung stellenden Glauben.

Corona hat unbarmherzige Dynamiken entfesselt: Arme werden ärmer, Einsame noch einsamer und eine polarisierte Gesellschaft driftet weiter auseinander. "Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist": Die Jahreslosung ruft hier zum verantwortungsvollen Handeln auf.

Im Jahr 2021 wird hoffentlich ein Impfstoff Linderung schaffen. Aber wir brauchen darüber hinaus auch so etwas wie eine "gesellschaftliche Heilung". Das Christentum war in seiner Geschichte immer besonders stark, wenn die lebensbejahende Kraft Gottes zu barmherzigen Handeln inspiriert hat. Von dieser Inspiration brauchen wir im neuen Jahr eine kräftige Dosis.