Nicht ein Rock wie in Trier, sondern die Vorhaut Jesu war einst der Stolz der reichen Handelsstadt Antwerpen. In der Liebfrauenkathedrale wurde sie in einer eigenen Kapelle verehrt. Dann kam der calvinistische Bildersturm von 1566, und die heilige Vorhaut ging spurlos verloren.

Doch nun will der Antwerpener Journalist Raf Sauviller (56) sie in der Toskana wiedergefunden haben. Und weil der umstrittene flämische Nationalistenführer Bart de Wever die in einem Männermagazin erschienene Geschichte aufgriff und lautstark die Heimholung der Vorhaut Jesu nach Antwerpen forderte, stand das Thema "Vorhaut Jesu" plötzlich in vielen belgischen Zeitungen.

"Als acht Tage um waren und man das Kind beschneiden musste, gab man ihm den Namen Jesus...": So erinnert das Lukasevangelium (2,21) daran, dass Jesus Sohn jüdischer Eltern war - und selbstverständlich beschnitten. Die "Brit Mila", der "Bund der Bescheidung", ist das körperliche Zeichen des Bundes, den Jahwe mit Abraham und seinen Nachkommen geschlossen hat (1. Mose 17,7-14). Jüdische Kinder erhalten bei diesem Anlass ihren Namen.

In lutherischen Feiertagskalendern ist der 1. Januar, der achte Tag nach Weihnachten, noch immer als "Tag der Beschneidung und Namengebung Jesu" zu finden. Kalenderexperten nennen die Rechnung, ein neues Jahr am 1. Januar beginnen zu lassen (und nicht etwa an Ostern, Weihnachten oder am 1. März wie bei den alten Römern), deshalb auch "Circumcisionsstil".

Nicht nur am 1. Januar und nicht nur in Antwerpen, sondern an mehr als einem Dutzend Orten in Europa wurden im reliquienseligen Mittelalter einst Vorhäute Jesu verehrt. Dass es sich bei den meisten um fromme Fälschungen gehandelt haben muss, liegt auf der Hand. Doch die Sehnsucht der Menschen nach einer echten, wahrhaftigen Reliquie vom echten, wahrhaftigen Körper Jesu war groß. Und die Vorhaut des Heilands war nun einmal die einzige Leibreliquie, die es dem biblischen Zeugnis zufolge nach der Himmelfahrt Christi auf Erden geben konnte.

Am intensivsten war die Vorhautverehrung in Frankreich (wo man sich auch im Besitz einiger Nabelschnüre des Heilands glaubte). "Praeputia Christi" gab es in Besançon, Boulogne, Compiègne, Conques, Fécamp, Langres, Le Puy, Coulombs, Metz, Nancy und Paris, doch die berühmteste nannte die Abtei von Charroux bei Poitiers ihr Eigen. Karl der Große höchstpersönlich soll sie den Mönchen von Charroux vermacht haben. Sehr zum Verdruss der Römer, die dasselbe von ihrer noch älteren Vorhaut behaupteten. Auch im spanischen Santiago de Compostela zog es Jakobspilger aus ganz Europa vor den Vorhaut-Altar: Dabei wären deutsche Pilger schon in Hildesheim fündig geworden. (Eine Windel Jesu wird im Aachener Dom übrigens bis heute verehrt.)

In Saturnringe verwandelt

Erstmals ausdrücklich erwähnt wird die Vorhaut Jesu in einem "Arabischen Kindheitsevangelium", einer apokryphen syrischen Schrift aus dem sechsten Jahrhundert: Eine alte Frau habe nach der Beschneidung Jesu Vorhaut in eben jenem Nardengefäß verwahrt, aus dem Maria Magdalena später das Öl nehmen sollte, um den Heiland zu salben, heißt es dort.

An Weihnachten des Jahres 800 soll Karl der Große die Reliquie Papst Leo III. geschenkt haben, als dieser ihn in Rom zum Kaiser krönte. Ein Engel, so Karl, habe ihm die Vorhaut überbracht, als er am Heiligen Grab betete. Eine Reise Karls ins Heilige Land gehört zwar ins Reich der frommen Legenden. Weil sich Karl für die Christen in Jerusalem einsetzte, hat er von dort aber tatsächlich einige wertvolle Reliquien erhalten.

Aufbewahrt wurden absolute Spitzenreliquien wie diese älteste Vorhaut Jesu in der Kapelle Sancta Sanctorum. Sie gehört zu den Resten des antik-mittelalterlichen Lateranpalastes der Päpste. Die "echten" Sandalen Jesu hortete man hier, den Stuhl, auf dem Jesus beim letzten Abendmahl saß - und eben seine Vorhaut.

Im Hochmittelalter und bis in die Reformationszeit hinein trieb der Vorhautkult grotesk anmutende Blüten: Die heilige Katharina von Siena (1347-1380) trug die Vorhaut Jesu als unsichtbaren Fingerring, während sie sich Augenzeugen zufolge ekstatisch am Boden wälzte und die spirituellen Umarmungen Christi genoss. Der spanische Jesuit Alfonso Salmerón (1515-1585), einer der ersten Schüler des Ignatius von Loyola (1491-1556), dichtete: "Jesus schickt seinen Bräuten den fleischlichen Ring des höchst kostbaren Präputiums. Der Hersteller ist der Heilige Geist, seine Werkstätte ist Marias reinster Schoß. Das Ringlein ist weich!"

Dies und die völlig unmögliche Vielzahl der heiligen Vorhäute hat die Kirche zu allen Zeiten in sachliche wie theologische Schwulitäten gebracht. Welches sollte als das einzig wahre Stück Haut des Heilands gelten? Reichte wie bei einer "normalen" Heiligenreliquie deren Verehrung, oder musste es bei einem Körperteil Jesu Christi bereits um Anbetung gehen? Oder war Jesus vielleicht doch körperlich vollständig in den Himmel aufgefahren und jede Vorhaut-Reliquie damit von vornherein Humbug?

Der vatikanische Gelehrte Leo Allatius (ca. 1586-1669) spekulierte in seiner Schrift "De Praeputio Domini Nostri Jesu Christi Diatriba" völlig ernsthaft, dass es sich bei den 1610 neu entdeckten Saturnringen um die Vorhaut des Herrn handeln müsse, die mit Jesus in den Himmel aufgefahren sei und sich nun in dieser Gestalt dem irdischen Betrachter zeige.

Das Problem der Vorhaut-Vielzahl hat sich quasi von selbst erledigt: Die meisten der heiligen Vorhäute sind den Wirren von Reformation und Französischer Revolution zum Opfer gefallen. Beim "Sacco di Roma", der bis heute traumatisch nachwirkenden, katastrophalen Plünderung Roms im Mai 1527 durch deutsche Landsknechte und spanische Söldner, wurden auch die Sancta Sanctororum geplündert. Die Legende will, dass der deutsche Landsknecht, der die Vorhaut Jesu stahl, später 45 Kilometer nördlich von Rom in Calcata festgenommen wurde. In seinem Kerker habe der Landsknecht das juwelenbesetzte Reliquiar samt Vorhaut versteckt, wo es erst 1557 wiederentdeckt worden sei.

Calcata war seither das letzte aktive Zentrum der Vorhaut-Verehrung in Europa. Jährlich am 1. Januar wurde in dem malerischen Bergdorf das "Sanctum Praeputium" bei einer Prozession gezeigt. Doch kurz vor der Prozession des Jahres 1984 hatte der Dorfpfarrer von Calcata eine schockierende Nachricht für seine Gemeinde: Die Prozession müsse ausfallen, die Reliquie sei verschwunden, spurlos. Nur ein schnöder Diebstahl? Ging es nur um das kostbare Reliquiar? Die Sache ist ein bis heute ungelöster Kriminalfall geblieben und hat Verschwörungstheorien ausgelöst. Nicht wenige in Calcata sind überzeugt, der Vatikan selbst stecke hinter dem Verschwinden der Vorhaut.

Die Geschichte ihrer Vorhaut-Reliquien war der katholischen Kirche nämlich zunehmend peinlich. Seit der Aufklärung sah sie sich deswegen immer ätzenderem Spott ausgesetzt. Im Februar 1900 erließ der Vatikan schließlich ein Dekret, das es Katholiken bei Strafe verbietet, über die Heilige Vorhaut zu schreiben oder zu sprechen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist aus dem katholischen Feiertagskalender sogar jegliche Erinnerung an die "Circumcisio Domini" am 1. Januar verschwunden. Statt über die Erinnerung an die Beschneidung Jesu dessen jüdische Wurzeln hervorzuheben, entschied sich die katholische Kirche in ihrem Ringen mit der Moderne dafür, die Marienverehrung zu stärken. Der 1. Januar ist für Katholiken heute das "Hochfest der Gottesmutter Maria".

Endstation Museum

In der Rangliste der Vorhaut-Reliquien ist Antwerpen vermutlich auf Platz zwei zu setzen. Ab dem Jahr 1112 oder 1114 ist die Anwesenheit eines "Sanctum Praeputium" in der flandrischen Stadt verbrieft. Gottfried von Bouillon (um 1060-1100), Heerführer beim Ersten Kreuzzug soll nach der Eroberung Jerusalems die Reliquie erworben haben.

Um den Vorhaut-Standort Antwerpen zusätzlich aufzuwerten, wurde dort 1426 die exklusive Bruderschaft "van der heiliger Besnidenissen ons liefs Heeren Jhesu Christi in onser liever Vrouwen kercke" eingerichtet. 24 der angesehensten Kleriker und Laien gehörten ihr an. Sie trommelte für die Verehrung der Antwerpener Reliquie und wurde trotz der römischen Vorhaut-Konkurrenz vom Papst mit weitreichenden Ablassprivilegien versehen.

Zu Ehren der heiligen Vorhaut gab es wöchentlich Hochämter, ja, es existierten sogar eigene "Praeputiumkaplane". Einmal im Jahr trug man die Reliquie - wie es in zeitgenössischen Berichten heißt - "im Triumph" durch die Straßen.

Der schöne spätgotische Glockenturm der Antwerpener Kathedrale besitzt ein Carillon von 49 Glocken und zählt heute zum UNESCO-Welterbe flämischer Belfriede. Kennern offenbart das barocke Kircheninnere jedoch, dass 1566, nur wenige Jahrzehnte nach Ende der fast 200-jährigen Bauzeit, der Bildersturm der Reformation mit aller Macht durch die Pracht der Kathedrale raste. Buntglasfenster, Bilder, Grabmale, Altäre - alles von calvinistischen Eiferer zerstört oder aus dem Gotteshaus geworfen. Auch von der Vorhaut des Herrn wollten die Calvinisten nichts mehr wissen. Sie verschwand spurlos.

Dennoch bestand die "Beschneidung-Christi-Bruderschaft" weiter. Noch Voltaire erwähnt 1765 in seinem "Dictionnaire philosophique" unter dem ironisch formulierten Artikel "Prépuce - Vorhaut" Antwerpen als einen der prominentesten Orte der europäischen Vorhaut-Verehrung. Süffisant fragt er: "Vielleicht liegt ein wenig Aberglauben in dieser falsch verstandenen Frömmigkeit?"

Auf die Spur der verlorenen Vorhaut von Antwerpen brachte Raf Sauviller vor einigen Monaten der Zufall. Bei Recherchen im Antwerpener Stadtarchiv stieß der Journalist auf den Brief eines Francisco Diaz, der sich 1696 an den Bürgermeister von Antwerpen gerichtet hatte. Er sei im toskanischen Pitigliano auf eine Wildschweinjagd eingeladen worden und dabei habe ihm "der dortige Fürst" in Angeberlaune die "heiligste Reliquie" der Welt vorgeführt: die Vorhaut Jesu aus Antwerpen. Diaz fordert Geld oder Männer vom Antwerpener Stadtrat, dann wolle er als Patriot den Italienern die Reliquie stehlen. Für das Husarenstück im Dienste der Stadt wolle er mit Geld und einer Anstellung in Antwerpen belohnt werden.

Dort hat man wohl nur die Schultern gezuckt. Man bewertete das Schreiben offenbar als dreisten Versuch der Abzocke. In den Akten ist jedenfalls nur Diaz' Brief, aber keine Antwort zu finden. Sauviller, der bisher eher als politischer Sensationsjournalist denn als Feuilletonist in Erscheinung getreten ist, war elektrisiert. Er fuhr nach Pitigliano, traf dort auf den Lokalhistoriker Angelo Biondi, und beide recherchierten weiter.

Für Sauviller und Biondi ergab schnell alles einen Sinn: ein spanischer Berufssoldat, der wie Francisco Diaz perfekt flämisch sprach und sich als Antwerpener Patriot gab? Durchaus plausibel, wenn man weiß, dass Flandern damals Teil der spanischen Niederlande war. Spanien besaß zudem mit dem "Stato dei presidi" (Festungsstaat) unweit von Pitigliano seit 1557 eine Art Kolonie an der toskanischen Küste. So hätte die Reliquie nach Italien gelangen können. Beim erwähnten Landesfürsten müsse es sich, so Sauviller und Biondi, um den damaligen Großherzog der Toskana, Cosimo de' Medici III. (1642-1723), handeln. Der galt als überaus frommer Katholik und Reliquienverehrer. Sein Palast in Pitigliano, der Palazzo Orsini, gehört heute der Kirche und beherbergt das Diözesanmuseum. Und zu diesem gehört ein öffentlich nicht zugänglicher Raum mit über 200 Reliquien.

Doch hier endete die Spur für Sauviller und Biondi. Guglielmo Borghetti, der Bischof von Pitigliano, verwehrte ihnen für weitere Nachforschungen den Zutritt zu den Reliquien im Palazzo Orsini. Und auch die Antwerpener katholische Kirche will sich Sauviller zufolge nicht weiter um die Vorhaut bemühen. Selbst wenn sich die Antwerpener Reliquie tatsächlich in Pitigliano befände, lautete die Auskunft des Bistums Antwerpen, "wir könnten sie heute hier doch gar nicht mehr zeigen."