Ob Moscheebesuch, Tempelführung oder Ausflug zur Klagemauer: Im Urlaub kommen viele Reisende mit anderen Religionen in Berührung. Dabei könnten solche Begegnungen mit anderen Gläubigen auch zu Hause stattfinden: Neben 50 Millionen Christen leben in Deutschland 100.000 Juden, 4,5 Millionen Muslime, 250.000 Buddhisten und 98.000 Hindus.  Eine interessante Antwort auf die Frage wie diese Menschen ihren Glauben im deutschen Alltag leben gibt der Hinduist und Wissenschaftler Anand Mishra vom Südasieninstitut in Heidelberg: Er empfiehlt Christen, chaotischer zu werden. Ein Gespräch über wilde Wälder, Karma-Konten und göttlichen Ohrschmuck.

Herr Mishra, der Hinduismus ist die unbekannteste der fünf Weltreligionen. Wie erklären Sie jemandem, der nichts darüber weiß, Ihre Religion?

Mishra: Hinduismus ist wie ein Wald. Und Hindu sein heißt, eine Waldwanderung machen. Es gibt viele Wege, manche oft benutzt, manche wenig. Es gibt lebensrettende Kräuter und schattige Bäume, aber auch Dornen und böse Wölfe. Und wie das bei einer Wanderung ist, müssen Sie sich anstrengen, damit Sie weiterkommen. Hinduismus ist kein ordentlicher Garten. Es ist chaotisch, aber alles hat eine innere Harmonie. Das ist das Wesen des Hinduismus. Wie eine Wanderung hat er auch ein Ziel: sich von Leid befreien und Glück erreichen.

Das Christentum hat Jesus, der Islam hat Mohammed. Wer hat den Hinduismus erfunden?

Mishra: Christentum, Judentum und Islam brauchen mindestens drei Dinge, um Religion zu sein: einen Gott, ein Buch oder eine Botschaft und einen Botschafter. Im hinduistischen Wald finden Sie Ecken, wo nichts davon wichtig ist. Das heißt aber nicht, dass nichts davon anwesend ist. Wer hat's erfunden? Wann hat es angefangen? Wir wissen es nicht. Aber das stört uns nicht: Sobald wir geboren werden, bekommen wir eine Tradition von unseren Vätern, die wir bewahren und weitergeben. In einem Dorf ist die so, im nächsten anders. So entstand der chaotische Wald. Und so entstanden viele Texte und Götter.

Hinduist Anand Mishra opfert seinen Göttern bei einem Feuerritual Getreide und Butterschmalz.
Hinduist Anand Mishra opfert seinen Göttern bei einem Feuerritual Getreide und Butterschmalz.

Führt das nicht zu Beliebigkeit?

Mishra: Es ist nicht beliebig, aber flexibel. Und damit lebensnah. Sitten ändern sich, je nachdem in welcher Gegend wir sind, welcher Lebensphase, welcher gesellschaftlichen Gruppe. Unsere Religion passt sich den Menschen an: Wir schneiden nicht den Arm gemäß der Länge der Ärmel, sondern die Ärmel entsprechen der Länge unserer Arme. Deswegen ist es schwierig zu sagen, es gibt eine Botschaft. Oder zehn Gebote. Trotzdem haben unsere Traditionen Regeln, die durch den Vater oder Dorfpriester überwacht werden.

Was ist dieses heilige, allumfassende Brahman, das bei Hindus überall in der Luft liegt?

Mishra: Ein Schüler fragt seinen Lehrer: "Was ist es, Brahman?" Der Lehrer schweigt. Am nächsten Tag fragt er wieder. Der Lehrer schweigt. Nach ein paar Mal ist der Schüler genervt: "Ich frage die ganze Zeit, und du antwortest nicht." Der Lehrer sagt: "Ich antworte die ganze Zeit, und du hörst nicht." Brahman ist nicht durch Verstand oder Sinnesorgane zu erfassen. Es ist nicht das, was die Augen sehen, sondern das, wodurch die Augen sehen können. Es ist größer als das Größte, aber kleiner, als das Kleinste. Logik hilft hier nicht weiter. Wenn ich sage: Gott ist grün, dann ist die Welt geteilt in grün und nicht-grün. Aber wenn Brahman alles ist - wie kann Nichtgrünes ausgeschlossen sein? Wörtlich übersetzt bedeutet es: "das, was überall ist". Es ist das Ganze, die Ursache, die Wahrheit. Alles, was ist. Ein anderes Wort dafür ist "Om".

Warum kann man nicht zum Hinduismus übertreten?

Mishra: Ein westlicher Indologe kam einmal in orangenem Gewand und mit einer heiligen Kette zu meinem Vater und bat ihn: "Konvertieren Sie mich zum Hinduismus." Da hat mein Vater gelacht und gesagt: "Weißt du, wenn du kein Jude, kein Christ, kein Muslim und kein Atheist bist, dann bist du wahrscheinlich Hindu." Bleiben wir bei unserem Wald: Wenn man nicht in einem geschlossenen Gebäude ist, das schön und ordentlich ist, Schutz schafft und Klarheit - dann steht man wahrscheinlich im Wald. Anders gesagt: Unser Wald hat keinen Eingang. Wir sind im Wald. Auch Austreten kann man deshalb nur, indem man in ein Gebäude hineingeht. Doch auch dann werden die Hindus sagen: Euer Gebäude steht letztlich auch in unserem Wald.

Wie halten es Hindus mit Gleichberechtigung? Müssen Frauen erst als Männer wiedergeboren werden, bevor sie Erlösung erlangen?

Mishra: Frauen sind wichtig, man kann quasi kein Ritual ohne sie ausüben. Aber unsere Religion ist hierarchisch, es gibt wenig Gleichberechtigung. Doch das ändert sich langsam. Um den Kreislauf aus Geburt und Wiedergeburt zu verlassen, muss jeder viele Stufen durchlaufen. Ja, wahrscheinlich muss eine Frau erst ein Mann werden, um Erlösung zu erlangen.

Wiedergeburt - eine komische Sache.

Mishra: Jeder Hindu akzeptiert sie, so erklären wir uns die Welt. Sie ist auch unser moralischer Wächter: Nur wenn du Gutes tust, kannst du Punkte für dein Karma-Konto sammeln. Wenn ich ein gutes Karma-Konto habe, steige ich höher. Wenn ich Schlechtes tue, steige ich ab. Vielleicht wird ein Massenmörder zur Strafe 17 Mal als Kakerlake oder Wurm wiedergeboren. Als Mensch geboren werden ist eine große Chance. Es gibt eine Lehre, die sagt, wir müssen 8,4 Millionen Leben durchleiden, bevor wir erlöst werden.

Wie steht es derzeit um Ihr Karma-Konto?

Mishra: Ich versuche, dass es nie zu schlecht wird. Aber ehrlich gesagt bin ich freier, seit ich in Deutschland bin. Ich mache manches nicht, weil es hier nicht geht. Zum Beispiel wollten wir eine Bibliothek einweihen mit einem Ritual. Aber es wurde verboten, weil man hier kein Feuer in einer Bücherei machen darf. In anderen Regionen muss man neue Wege finden, seinen Glauben zu leben.

Werden auch Nicht-Hindus wiedergeboren?

Mishra: Aus unserer Sicht ja. Wenn sie gut gelebt haben, werden sie wahrscheinlich als Hindu wiedergeboren. Sie sind nicht auf ewig verloren. Wenn es acht Millionen Stadien gibt, kann man auch ein paar in einer anderen Religion verbringen. Jeder, der stirbt, wird wiedergeboren. Das gilt für jeden, unabhängig von seiner Religion.

Und wie sieht die Erlösung aus?

Mishra: Da gibt es mehrere Vorstellungen. Eine ist die asketische: Sie definiert Erlösung als Glückszustand. Aber nicht, wie wenn wir etwas Leckeres gegessen haben und denken, wir sind glücklich. Denn Hunger kommt wieder, deshalb ist es kein echtes Glück, sondern nach unserer Vorstellung Leid. Wenn man erlöst ist, entstehen keine neuen Wünsche. Die zweite Vorstellung von Erlösung ist, dass man sich mit Gott verbindet. Man kann zum Beispiel Krishnas Ohrring werden und immer, wenn er sich bewegt, seine Wange küssen. Das ist doch wunderschön!

An küssbaren Götterwangen fehlt es den Hindus ja nicht. Manche sagen dennoch, der Hinduismus sei nicht polytheistisch. Warum?

Mishra: Familiengott, Gott für Regen, Schulnoten, Kricket: Ein Hindu hat Götter für alles. Durch sie wird unser Glaube lebensnah. Wir können sie baden, füttern, mit ihnen tanzen - da haben wir keine Berührungsängste. Unsere Götter machen auch Fehler und spielen Streiche. Sie sind genauso weltlich, wie die Welt heilig. Wie man dann unterscheiden kann zwischen heilig und nicht heilig, religiös und nicht religiös? Gar nicht. Weltlich ist heilig, heilig ist weltlich. Das ist verrückt und schwer zu verstehen. Aber es geht darum, nicht mehr in Gegensätzen zu denken. Hinter allem steht Brahman: Wahrheit ist eins.

Der Hinduismus gilt als älteste Weltreligion. Warum ist er trotzdem auch heute noch relevant?

Mishra: Wir haben ein schönes Wort, Purana. Es bedeutet "alt, aber trotzdem neu". Wir sind relevant, weil wir lebensnah sind. Wenn unsere Fluggesellschaft ihr neues Flugzeug kauft, gibt es eine hinduistische Waschung. Wenn unsere Kernphysiker ein Gebäude bauen, kommen Priester und weihen es mit 3000 Jahre alten Mantren. Unsere Rituale helfen, weltliche Bedürfnisse zu befriedigen, und wiegen uns psychologisch in Sicherheit. Ein Kollege musste auf einem Flug mit einer nepalesischen Fluggesellschaft einmal wegen technischer Probleme umkehren. Nach gescheiterten Versuchen, den Fehler zu beheben, haben die Piloten - Sie werden es nicht glauben - eine Ziege geopfert. Und sind weitergeflogen. Natürlich nur mit nicht-westlichen Passagieren an Bord. Wenn sie in Indien sind, sehen Sie überall, wie der Hinduismus in der Moderne lebt: Sie können übers Internet Götter verehren; aktuelle Musik aus Bollywood-Filmen wird zu Lobgesängen für Götter verwendet: neue Melodie, jahrtausendealter Text.

Was kann das Christentum vom Hinduismus lernen?

Mishra: Ein bisschen chaotischer zu werden. Unterschiede nebeneinander gedeihen zu lassen. Das bringt viel. Man denkt zwar manchmal, alles ist durcheinander, lasst uns Ordnung schaffen. Aber schon die Behauptung, "das ist die Wahrheit, das der richtige Weg", bringt Gewalt. Auch könnten sie sich abschauen, wie wir mit der Grenze zwischen heilig und weltlich spielen. Warum? Weil das lebensnah ist. Und Menschen brauchen das.

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GÖTTERSCHAU

Der Hinduismus kennt viele Tausende Götter. Zu den drei wichtigsten zählen Brahma, Shiva und Vishnu.

BRAHMA ist der Schöpfer-Gott. Vor Beginn der Schöpfung gab es nur das Unendliche, oft dargestellt als Ozean. Dort erscheint die Weltenschlange, auf ihr ruht Vishnu, der Allgegenwärtige. Aus seinem Nabel entsprang eine Lotusblüte, und aus diesem Lotus kam Brahma, der Schöpfer der Welt. Die Welt ist eine Manifestation von Brahmas Gedanken: Die Welt ist Traum Gottes. In den Händen hält er die Veden, die uralten Schriften, eine Lotus-Blüte, einen Rosenkranz und die Bettelschale. Denn selbst er ist ein Bettler: Nichts ist beständig, alles vergänglich. Auch der Schöpfer selbst kann das nicht ändern.

SHIVA ist der Zerstörer-Gott und als solcher Ursache der Schöpfung. Denn ohne die Zerstörung des alten Zyklus gibt es keine neue Schöpfungsperiode. Shiva wird oft als jung und schön dargestellt, mit weißer Haut. Er hat drei Augen und vier Arme. Aus seinem Kopf entspringt der lebensspendende Fluss Ganges. Er trägt eine Mondsichel als Krone und Kleidung aus Tiger- und Elefantenhaut. Um seinen blauen Hals windet sich eine Kobra.

VISHNU ist der Erhalter, das Gleichgewicht zwischen Brahma, dem Schöpfer, und Shiva, dem Zerstörer. Vishnu hat in seinen vier Händen vier Attribute: das Muschelhorn, das die Energie des Universums symbolisiert; das Feuerrad, die Keule und die Lotusblüte.