Bis zu 30.000 Menschen mit Behinderung aus Psychiatrie und Pflegeheimen wurden in Bayern während der NS-Zeit ermordet, 4.000 davon in Oberbayern. Der oberbayerische Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) hat nun in München zusammen mit dem Historiker Jörg Skriebeleit das Buch "Verdrängt. Die Erinnerung an die nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde" vorgestellt. Die Bezirke stehen als Träger der psychiatrischen Einrichtungen in der Rechtsnachfolge des NS-Unrechtsstaats.

Erinnerungskultur von großer Bedeutung

Es ist ein großformatiges und schwergewichtiges Buch mit über 250 Seiten, das vom Bezirk Oberbayern und dem Zentrum für Erinnerungskultur der Universität Regensburg herausgegeben wurde. Bisher gibt es nur ein "Euthanasie"-Opferbuch der Landeshauptstadt München - und auch der Bezirk Oberbayern plant ein spezielles Opferbuch für seine Region, das in ein paar Jahren erscheinen soll.

"Wir wollen den oberbayerischen Opfern Gesicht und Namen geben", erläuterte der Bezirkstagspräsident: "Erinnerungskultur ist wichtig."

Der nun vorgelegte Band widmet sich in einer übergreifenden Perspektive mit der Erinnerung an diese Gruppe von NS-Opfern, deren "Marginalisierung und Diskriminierung" bis heute anhalte, heißt es im Buch-Vorwort. Thematisiert wird etwa, wie mit der Erinnerung an die Taten umgegangen wurde und wird, beispielsweise bei der juristischen Aufarbeitung der NS-"Euthanasie": Es gab zwei alliierte Strafverfahren und mehrere Prozesse in der Bundesrepublik. Bei den ersten - 1946/1947 - kam es meist zu Verurteilungen und Hinrichtungen.

Nicht die Sprache der Täter verwenden

Seit 1948 gab es häufiger kürzere Haftstrafen oder auch Freisprüche. Die Strafverfahren waren geprägt von langen Ermittlungs- und Verfahrensdauern, die Verjährung von Totschlag verhinderte viele Verurteilungen. "Euthanasie" - griechisch für "der schöne Tod" - wird in dem Buch übrigens durchgehend in Anführungszeichen gesetzt, denn der Tod der behinderten Menschen durch Verhungern oder in den Gaskammern war alles andere als schön, erläutert der Historiker Skriebeleit:

"Das ist die Tätersprache für ein Verbrechen."

Eine Karte am Anfang des Buches macht die Topografie der "Euthanasie"-Morde deutlich. Schwarze Punkte kennzeichnen die Gasmordanstalten in Brandenburg, Bernburg, Hadamar, Grafeneck und Hartheim. Graue Punkte verweisen auf die Orte, wo die Menschen durch Nahrungsentzug, Medikamente und Vernachlässigung getötet wurden, von Haar über Erlangen bis Bremen. Grüne Ringe zeigen Morde in den "Kinderfachabteilungen" an. Bis zu 5.00 behinderte Kinder sollen dort mit Medikamenten umgebracht worden sein.

Es sollen Einzelschicksale erklärt werden

Das Buch will aber nicht nur Zahlen vermitteln, sondern auch konkrete Schicksale vorstellen - etwa jenes von Edith Hecht. Sie wurde 1931 in München geboren, das Kleinkind litt jedoch verstärkt an Krämpfen, die teils zur Bewusstlosigkeit führten und mit großen Schmerzen verbunden waren. Mit vier Jahren kam Edith 1935 in das Kinderhaus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Ab 1939 begannen sich die Eltern um Ediths Sicherheit zu fürchten. Sie erreichten die Verlegung ihrer Tochter in die katholische Pflegeanstalt Schönbrunn.

Doch im Juni 1944 war auch dieser Schutzraum nicht mehr gegeben. Ohne die Eltern zu informieren, wurde das Mädchen nach dem Willen der NS-Machthaber nach Eglfing-Haar überführt. Die katholische Anstalt Schönbrunn wurde als Ausweichkrankenhaus genutzt, die Pfleglinge verlegt. In Haar wurde der damals 13-jährigen Edith hochdosiertes Beruhigungsmittel verabreicht. Der daraus resultierende künstliche Dämmerschlaf führte - wie beabsichtigt - zu einer Lungenentzündung. Edith Hecht starb am 23. Dezember 1944.

Ein anderes "Euthanasie"-Opfer war Josef Schneller, der im April 1907 als 28-Jähriger nach Eglfing gebracht wurde. Ein Psychiater der Anstalt schrieb über ihn, Schneller werde wegen seiner Reizbarkeit "fast dauernd im Einzelzimmer im Bett gehalten". 17 Bilder Schnellers, die er in Eglfing anfertigte, wurden als "Irrenkunst" in der Nazi-Schau "Entartete Kunst" gezeigt. 1943 wurde die sogenannte Hungerkost eingeführt, eine ganz gezielte Mangelernährung. Schneller starb am 21. Juli 1943 völlig geschwächt an Lungentuberkulose.

Unbekannter Teil der NS-"Euthanasie" sind Krankenmorde in bestzeten Gebieten

Einige Buch-Kapitel beschäftigen sich auch mit einem eher unbekannten Aspekt der NS-"Euthanasie": Den Krankenmorden in besetzten Gebieten. Besonders betroffen waren die Patienten in Heil- und Pflegeanstalten in Polen und der Sowjetunion, deren Bevölkerung laut NS-Ideologie ohnehin als "Untermenschen" galten. So begannen nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei mit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung und auch der Patienten von Pflegeeinrichtungen.

Im ukrainischen Poltawa wurden 599 Patienten der psychiatrischen Klinik im Oktober 1941 erschossen, die verbliebenen 130 Menschen wurden im August 1942 ermordet. Seit 1988 erinnert ein Denkmal am Ort der Massenerschießung im Hryschkyn-Wald an die Ermordeten.

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