Flussperlmuscheln sind hart im Nehmen. Mehr als 300 Millionen Jahre haben es die Tierchen geschafft, ohne den Menschen zu überleben. Doch damit ist nun offenbar Schluss. Wer heute in die idyllischen Bäche rund um die historische Huschermühle im Dreiländereck Bayern-Sachsen-Tschechien schaut, sieht vor allem: Steine. Doch das war längst nicht immer so.

Flussperlmuscheln gab es vor 70 Jahren noch zuhauf

Noch in den 50er Jahren sei hier in den Bächen alles voll mit Muscheln gewesen, sagt Wolfgang Degelmann. Der Geschäftsführer des Bundes Naturschutz Hof leitet die Muschel-Aufzuchtstation in der Mühle im fränkischen Regnitzlosau. Dort päppelt er die kleinen Tiere - die kalkarme Gewässer lieben, nur langsam wachsen und 100 Jahre alt werden können - mit einem unglaublichen Aufwand wieder auf - um das Bestehen der Art zu sichern.

Früher hätten die Menschen die Flussperlmuscheln wäschekörbeweise aus den Bächen geholt, sie an Gänse verfüttert oder sich auf die Suche nach ihren edlen Perlen gemacht, erzählt Degelmann. Doch diese Zeit ist vorbei. Denn wenngleich die oberfränkische Gegend zu den wenigen Gebieten in Mitteleuropa zählt, in denen die besondere Muschel noch in nennenswerter Zahl vorkommt, geht es mit ihrem Bestand auch hier rapide bergab: Zählten Naturfreunde in der Nachkriegszeit im Landkreis Hof noch sieben bis zehn Millionen Exemplare, waren es in den 1980er Jahren nur mehr 100.000. Bei der letzten Zählung waren dann gerade noch 30.000 übrig. Wie konnte es passieren, dass der Bestand binnen weniger Jahrzehnte um mehr als 99 Prozent schrumpft?

Flussperlmuscheln pflanzen sich nicht mehr fort, die Bestände sinken

Die Naturschützer fanden heraus: Die jüngsten Tierchen in ihrem Gebiet sind bereits Ü50 - es fehlt also an Nachwuchs. "Wir kamen uns vor wie in einem Hospiz", sagt Degelmann. Die Ursache hierfür fanden sie in der komplexen Entwicklung der Muschel.

Im April entlassen die männlichen Tiere ihre Spermien ins Wasser, die weiblichen filtrieren sie heraus und befruchten ihre Eizellen. Ab Juli bildet sich auf der Muschelschale eine Art Wattebausch, in dem die befruchteten Zellen reifen. Wenn sie platzen, gelangen von jeder Muschel Millionen Larven ins Wasser.

Durch diese Wolke schwimmt die Bachforelle, der Wirt der Muschelbabys. Die Larven krallen sich den Fischkiemen fest und wachsen dort heran - etwa 100 bis 5.000 pro Fisch. Dann lässt sich die Babymuschel von ihrem Fischtaxi durch den Winter bringen und zurück in die Quellgegend. Dort löst sie sich und vergräbt sich für sechs Jahre im Bachbett. Erst wenn sie eine Größe von zweieinhalb Zentimetern erreicht hat, robbt sie zurück an die Oberfläche.

Viele Millionen Jahre funktionierte das. Doch wie die Naturschützer herausfanden, schaffen es die Jungmuscheln heute nicht mehr, aus dem Kies herauszukommen. Der Grund: Rund um die Bäche gibt es immer weniger Wiesen und immer mehr Äcker. Bei Regen wird Feinsediment in die Bäche geschwemmt, laut einer Untersuchung der TU München bis zu drei Kilo pro Quadratmeter und Woche. Die Folge erklärt Degelmann:

"Die Jungmuschel erstickt oder verhungert oder beides"

Aufzuchtstationen sollen den Bestand sichern

"Die Flussperlmuschel ist für mich das perfekte Beispiel für die Genialität der Natur", findet Heidi Selheim. Sie betreut die letzte Flussperlmuschel-Population in Nordrhein-Westfalen. Denn auch sie wollte nicht hinnehmen, dass "das perfekte Zusammenspiel von Fisch und Muschel" und "ihr komplexer Lebenszyklus, der über Ewigkeiten funktioniert hat" vom Menschen in kurzer Zeit zerstört wird. Darum machen sich die Naturschützer nicht nur für geschützte Einzugsbereiche stark, sondern haben in Aachen ebenso wie in der bayerischen Huschermühle Aufzuchtstationen eingerichtet.

Der Aufwand ist enorm: Im Juli kontrollieren die Helfer und Helferinnen die "Wattebäusche" im Bach. Sind sie reif, werden sie abgesaugt und kommen mit Tausenden Forellen in ein Becken, wo die Larven sich in den Kiemen festsetzen. Sind die Minimuscheln genügend gewachsen, erhöhen die Naturschützer die Wassertemperatur und "spielen Frühling", sodass sich die Muscheln fallen lassen.

Dann werden sie aufgefangen, gefüttert und nach drei bis fünf Monaten in Lochplatten mit feinen Netzen gesetzt und in ein Aufzucht-Bachbett gelegt. Auch dort wird weiter kontrolliert, die Platten werden wöchentlich gereinigt. Sind die Tiere 0,4 Millimeter groß, kommen sie in einen Käfig, der weiterhin gereinigt und kontrolliert wird. Dort wachsen sie über zwei Jahre heran. Sind sie knapp drei Zentimeter lang, entlassen ihre menschlichen Eltern sie in die Freiheit.

"Ein faszinierender Moment", beschreibt Degelmann den Augenblick. Die Muschel hat einen Fuß, mit dem sie sich dann in wenigen Minuten im Bachbett eingräbt und nur wenig herausschaut. "Dann öffnet sie ihre Schale und filtriert los", erzählt er - seine Begeisterung merkt man ihm bei jedem Wort an.

Die Aufzuchtstation wird im Rahmen des MARA-Projektes zum Schutz der Flussperlmuschel vom Bundesministerium für Umwelt und vom Bayerischen Naturschutzfonds gefördert. Für Aufbau und Betrieb der Zuchtanlage hat die Regierung von Oberfranken aus EU-Mitteln 1,16 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, wie eine Sprecherin bestätigt.

Wenn in der Muschelmühle alles rund läuft, bleiben Schätzungen zufolge von etwa 150.000 Jungmuscheln an den Fischkiemen am Ende 10.000 Muschelkinder pro Jahr übrig. Genug, um den Nachwuchs zu sichern.

Die Flussperlmuschel

Die Flussperlmuschel („Margaritifera margaritifera“) wird bis zu 13 Zentimeter lang und hat eine nierenförmige, dicke, braun-schwarze Schale. Sie benötigt saubere und im Gegensatz zu den meisten anderen Muschelarten besonders kalkarme Fließgewässer. Die Flussperlmuschel wächst sehr langsam und kann nach Angaben des Experten Wolfgang Degelmann vom Bund Naturschutz Hof bis zu 100 Jahre alt werden. Sie wiegt dann so viel wie eine Tafel Schokolade.

VORKOMMEN: In Deutschland gibt es noch kleinere Vorkommen in der Oberpfalz, in Niederbayern, im Vogtland und in Niedersachsen. Die Fließgewässersysteme im Drei-Länder-Eck Bayern-Sachsen-Tschechien verfügen über das größte Einzelvorkommen in Mitteleuropa; große Bestände existieren auch noch in Schottland, Norwegen oder Schweden. Doch die Zahl der Flussperlmuscheln geht überall zurück, bundesweit ist sie vom Aussterben bedroht.

GESCHICHTE: Die Flussperlmuschel gehört mit einer mehr als 300 Millionen Jahre langen Geschichte zu den ältesten Organismen der Welt. Sie hat Dinosaurier, Kometen, Perlendiebe - angeblich enthält mindestens jede 10.000. Muschel eine Perle - und industriell verschmutzte Abwässer überlebt. Doch seit einigen Jahrzehnten schrumpft der Bestand deutlich. Grund dafür sind neben der sich verschlechternden Wasserqualität die Eintragung von Feinsediment aus benachbarten Äckern, die die Jungmuscheln im Bachkies ersticken lassen.

FORTPFLANZUNG UND ENTWICKLUNG: Die Flussperlmuschel entwickelt sich sehr langsam und mithilfe eines komplexen Prozesses. Im April entlassen die männlichen Tiere ihre Spermien ins Wasser, die weiblichen filtrieren sie heraus und befruchten ihre Eizellen. Ab Juli bildet sich auf der Muschelschale eine Art Wattebausch, in dem die befruchteten Zellen reifen. Wenn sie platzen, gelangen von jeder Muschel Millionen Larven ins Wasser.

Durch diese Wolke schwimmt die Bachforelle, der Wirt der Muschel. Die Larven krallen sich in den Kiemen fest und wachsen dort heran - etwa 100 bis 5.000 pro Fisch. Dann lässt sich die Babymuschel von ihrem Fischtaxi durch den Winter bringen und zurück in die Quellgegend. Im Frühjahr löst sie sich ab und vergräbt sich für sechs Jahre im Bachbett. Mit zweieinhalb Zentimetern robbt sie sich an die Oberfläche.