Langsam zieht Helge seinen Körper mit der linken Hand an der Kletterwand nach oben. Sein linker Fuß sucht nach festem Halt und findet einen Vorsprung. Der neunjährige Junge drückt sich in die Höhe, immer in Richtung Hupe kurz unter der Decke. Sport- und Physiotherapeut Philip Ewert sichert ihn mit einem Seil.

"Ja, super, das ist es", ruft er Helge zu. "Bis zur Hupe ist es nicht mehr lang, Du schaffst es!" Wenig später trötet es durch die Sporthalle des Neurologischen Rehabilitationszentrum in Bremen-Friedehorst. Helge ist oben angekommen.

Helge hatte Schlaganfall mit sechs Jahren

Es ist noch gar nicht so lange her, da wäre das unmöglich gewesen. Helge hielt seine linke Hand meist hinter dem Rücken, weil sie "Quatsch macht", so hat er es damals selbst beschrieben. Er konnte sie nicht steuern, überhaupt war es für ihn schwer, die linke Körperhälfte zu koordinieren.

An eine Tour an der Kletterwand war da nicht zu denken. "Das ist jetzt komplett weg, Helge benutzt die Hand ganz selbstverständlich mit", freut sich Philip Ewert zusammen mit dem Jungen. "Give me five", fordert er Helge auf, um den Erfolg zu besiegeln. Der antwortet mit der Ghettofaust.

Es kam wie aus heiterem Himmel: Im Dezember 2019 überfallen Helge plötzlich extreme Kopfschmerzen. Die Sprache ist verschwommen, er rutscht ständig vom Stuhl. Die Kinderärztin ist ratlos, erst eine Untersuchung im Krankenhaus bringt Klarheit: Helge hat einen Schlaganfall erlitten. Diagnose Moyamoya, eine seltene Krankheit, bei der das Hirn durch verengte Hauptschlagadern unterversorgt wird.

"Wir glaubten zuerst an einen Virusinfekt - ein Schlaganfall bei einem sechsjährigen Jungen, daran denkt doch niemand", erinnert sich Helges Mutter Emely Peters.

Die Familie aus Beverstedt bei Bremerhaven ist geschockt, ihr Alltag von einer Minute auf die andere auf den Kopf gestellt. Einerseits. Und andererseits bringt die Diagnose Klarheit. "Wir wussten endlich, wie wir ihm helfen konnten", sagt Emely Peters, die schon lange Zeit vorher Symptome registriert, auf die sich niemand einen Reim machen kann: Wenn Helge nur mit Ohrschützern ins Kino geht oder bei Gewitter unter den Tisch kriecht, weil er so lärmempfindlich ist. Oder im Dunkeln frühstückt, weil ihm das Licht weh tut.

"Ich war schon verzweifelt, weil wir für all' das keinen Grund gefunden haben", sagt Emely Peters. "Die Untersuchung im MRT hat uns gezeigt: Helge hatte schon vor dem Dezember 2019 viele kleine Schlaganfälle."

Jährlich 300 bis 500 Kinder erleiden Schlaganfall

In Deutschland erleiden nach Angaben der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe jährlich 300 bis 500 Kinder und Jugendliche einen Schlaganfall, oft schon im Mutterleib oder während der Geburt. Die Dunkelziffer liegt vermutlich höher, weil die Symptome nicht in diese Richtung gedeutet werden und manchmal auch wieder verschwinden.

"Es ist einfach ein großes Problem, dass man Kinder und Schlaganfälle nicht miteinander verbindet", sagt Wiebke Maroske, Chefärztin der Neuropädiatrie in der Rehaklinik Friedehorst, und betont zugleich:

"Es ist ganz wichtig, dass man einen Schlaganfall frühzeitig erkennt. Zeit spielt bei einer erfolgreichen Reha eine wichtige Rolle."

Nach dem Schlaganfall kann Helge nicht mehr richtig laufen, er torkelt, ist wackelig auf den Beinen. Er kann nicht selbstständig essen und trinken, braucht Unterstützung beim Anziehen. Doch mit der schnell einsetzenden Reha, mit Ergo-, Physio- und Logopädie, kämpft sich Helge zurück ins Leben. Operationen im internationalen Moyamoya-Zentrum des Universitäts-Kinderspitals Zürich helfen und sollen verhindern, dass es wieder zu einem Schlaganfall kommt.

Kinderlotsen bieten Unterstützung

Unterstützung kommt vom Bremer Schlaganfall-Kinderlotsen Maik Hohmann, der auch in Friedehorst arbeitet. Er steht betroffenen Familien beratend zur Seite. Mittlerweile gibt es bundesweit vier Anlaufstellen dieser Art, jeweils zuständig für den Norden, Süden, Osten und Westen Deutschlands. Koordiniert wird ihr Einsatz durch die Schlaganfall-Hilfe in Gütersloh.

"Wir wissen, wo es welche Hilfen gibt, wir begleiten durch den Dschungel von Diagnosen und unterstützen beispielsweise bei Anträgen für geeignete Therapien und Gutachten", erklärt Maik Hohmann.

Die Hilfe ist wichtig, denn nicht nur der Alltag mit dem Kind kostet viel Kraft. "Wir müssen mit den Krankenkassen manchmal kämpfen, wenn es beispielsweise um Reha-Anträge oder um die Bewilligung von Hilfsmitteln geht", sagt Emely Peters. "Da hat uns auch die Selbsthilfegruppe für Schlaganfallkinder sehr geholfen, die es mittlerweile in vielen Regionen Deutschlands gibt."

Schönreden hilft nichts

Ob nach einem Schlaganfall alle Schäden geheilt werden können, ist nach den Worten von Chefärztin Wiebke Maroske nicht ausgemacht. "Aber bei Kindern ist die Fähigkeit des Gehirns, sich neu zu organisieren, die neuronale Plastizität, besonders gut ausgeprägt." Es helfe nichts, die Lage schönzureden:

"Aber wir können Mut machen. Es gibt gute Aussichten, Funktionen wieder neu zu erwerben."

Jetzt, mehr als drei Jahre nach dem massiven Schlaganfall, geht Helge wieder zum Schwimmkurs, verabredet sich mit Freunden, kann selbstständig essen und trinken. "Die Reha hier in Friedehorst war megagut - das hat uns in den Alltag zurückgeholt", berichtet Emely Peters. Sie ist aber auch überzeugt, dass der Erfolg trotz gelegentlicher Frust-Tage viel mit Helge selbst zu tun hat: "Er ist so positiv, das gibt unheimlich viel Kraft."

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