In der Debatte um den Aktivismus der "Letzten Generation" hat die Professorin für Medienethik, Claudia Paganini, von "Anfang an eine Schieflage wahrgenommen". Dem Sonntagsblatt sagte sie: "Die Aktivisten in der letzten Generation sind besonders von Politikerinnen von Anfang an diffamiert und kriminalisiert worden und mit Ausdrücken wie Terroristen oder Ungeziefer bezeichnet worden." Paganini ist Professorin an der Münchner Hochschule für Philosophie (IHS).

Paganini: "Letzte Generation" stigmatisiert

Die Gesprächseinladungen der "Letzten Generation" seien von Anfang an ausgeschlagen worden, so die Medienethikerin, wodurch gar kein Diskurs stattfinden konnte. Weiterhin befeuere das Mediensystem die negative öffentliche Darstellung der Aktivistengruppe.

Oft erhielten Aktionen, die nicht auf eine Störung der öffentlichen Ordnung abgezielt hätten, wie beispielsweise das Aufstellen von Tempo-100-Schildern vor dem Verkehrsministerium, kaum Aufmerksamkeit. Laut Paganini sei die Gruppierung stattdessen schnell kriminialisiert und stigmatisiert und die Bürger*innen seien kaum über die Ziele und Werte der "Letzten Generation" informiert worden.

Aktivist Vincent Schäfer

"Letzte Generation"-Aktivist Vincent Schäfer erklärte im Sonntagsblatt-Interview, er könne mit dem Hass, der ihn in den sozialen Medien treffe, gut umgehen, allerdings schockierten ihn die sich neuerdings häufenden gewalttätigen Ausschreitungen von Bürger*innen gegenüber den Demonstrant*innen der "Letzten Generation".

Schon im Juli 2023 liefen 142 Ermittlungsverfahren wegen Angriffen auf Demonstrant*innen der letzten Generation. Aktuell häufen sich zudem Videos im Netz, die Autofahrer*innen und Passantin*innen zeigen, die mit Gewalt gegen die Demonstrant*innen vorgehen.

Vincent Schäfer erklärte, er verstehe zwar den Frust der Autofahrer*innen, appelliere allerdings an die Menschen, sich mit den Gründen für die Protestaktionen zu beschäftigen, da der Klimaschutz letzten Endes jeden Menschen betreffen werde und Deutschland drohe, erneut die Klimaziele zu verfehlen. Außerdem wünscht sich der Aktivist mehr Aufklärung von Medienhäusern unter anderem zum Thema des zivilen Ungehorsams.

Ziviler Ungehorsam

Ziviler Ungehorsam ist eine politische Form des Protests, deren Ursprung bis in die Antike reichen. Für diese Form des Protests werden auch Mittel genutzt, die nicht legal sind. Ziviler Ungehorsam ist dabei wesentlich symbolischer Natur, hat eine Appellfunktion und kann die angeprangerten Probleme nicht lösen, sondern soll auf diese aufmerksam machen.

Eine Maßnahme, die aktuell gegen den zivilen Ungehorsam der "Letzten Generation" angewandt wird, ist die sogenannte Präventivhaft. Vincent Schäfer verbrachte im Dezember 2022 selbst 15 Tage in Präventivhaft. 

Präventivhaft für Aktivist*innen

"Es ist ein Armutszeugnis, dass eine politische Führung für solche Menschen keine andere Antwort parat hat, als sie wegzusperren", kritisiert Claudia Paganini die Maßnahme der Präventivhaft scharf.

Sie nimmt die jungen Demonstrant*innen als Menschen mit extrem hohen moralischen Standards wahr, die empathisch und verantwortungsbewusst sind und ihre eigenen Interessen zurückstellen. Also genau die Merkmale, die eine funktionierende Demokratie laut Paganini an ihre Bürger*innen stellen sollte.

Die Medienethikerin wertet die Präventivhaft im Gespräch außerdem als Zeichen der Überforderung der politischen Akteur*innen und als eine Inszenierung von Stärke im Sinne des Wahlkampfes.

Polizeigewalt gegenüber der "Letzten Generation"

"Ich denke, das ist etwas, was über kurz oder lang leider so gut wie jedem Aktivisten irgendwann begegnet", so Vincent Schäfer über Polizeigewalt gegenüber Demonstrant*innen.

Nicht nur die Gewalt von Seiten der Bevölkerung habe zugenommen, so Schäfer. Auch die Polizei stehe immer wieder in der Kritik, sogenannte Schmerzgriffe bei den Demonstrant*innen anzuwenden.

Vincent Schäfer berichtet von unterschiedlichen Erfahrungen: Er sei häufiger von Polizist*innen von der Straße getragen worden. Nun komme es aber vermehrt vor, dass Polizist*innen den Demonstrant*innen Schmerzgriffe androhten und diese auch durchführen würden, sollten sich die Demonstrant*innen nicht von der Straße wegbewegen.

Polizeimethoden: Verstoß gegen das Folterverbot?

"Ich finde diese Bilder, die man jeden Tag im Internet sieht, einfach nur erschreckend und kaum zu ertragen. Ich hätte auch wirklich nie gedacht, dass in Deutschland im Jahr 2023 so etwas möglich wäre", äußerte sich Claudia Paganini zu den Vorfällen.

Das Androhen von physischer Gewalt, also den Schmerzgriffen durch die Polizei, mit dem Ziel der Verhaltensänderung, kann nach Paganini und Dr. Dorothee Mooser, die zur rechtlichen Zulässigkeit von Nervendrucktechniken promoviert hat, in Einzelfällen ein Verstoß gegen das Folterverbot darstellen.

Paganini: "Ich finde es einfach nur erschütternd, dass in Deutschland jeden Tag wieder solche Szenen passieren können und keine Reaktion kommt, keine Empörung in den Medien, keine Empörung durch die Politik."

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