Eindrucksvoll erzählt Herr Ladany von seinem sehnlichen Wunsch an die langsam rot werdenden Tomaten zu kommen. Die Früchte befinden sich hinter zwei riesigen Zäunen. Für den damals zehnjährigen Jungen scheinen sie unerreichbar. Davon spricht der Holocaust-Überlebende Shaul Ladany auf der Veranstaltung "Gehen, um zu erinnern" der Hanns-Seidel-Stiftung in München, um an die Gräueltaten des Dritten Reichs zu erinnern. Mit dem Sonntagsblatt redet er danach über sein bewegtes Leben.

"Morgen Abend bin zurück zuhause in Israel. Dann kann ich wieder laufen gehen."

Ihre Biografie hat den Titel "König der Straße". Wir haben außerdem gehört, dass Sie jeden Tag Sport treiben würden. Sind Sie heute schon gelaufen?

Shaul Ladany: Nein, leider nicht. Für meine Zeit hier in Deutschland bin ich in einem Hotel. Als wir angekommen sind, haben wir die ganze Nacht nicht geschlafen und gestern hatte ich leider keine Zeit. Morgen Abend bin zurück zuhause in Israel. Dann kann ich wieder laufen gehen. In drei Tagen habe ich dann sogar ein 15 Kilometer-Rennen. 

Wie haben Sie eigentlich angefangen, Gehen als Sport zu betreiben?

Ich habe begonnen, als ich noch beim israelischen Militär war. Damals wurden vier-Tage-Rennen organisiert, an denen ich teilgenommen habe. Das waren aber keine offiziellen Turniere. Es war mehr so, als würden Freunde gegeneinander antreten, um zu schauen, wer am schnellsten ist. Es ging also darum, wer am schnellsten gehen konnte und ich wurde der inoffizielle König dieser Rennen. Aber ich musste noch mehr trainieren, weil ich davor Marathonläufer und kein Geher war. Kurz darauf, habe mich meine Freunde dazu gebracht, bei einer Meisterschaft mitzumachen und da habe ich auch gewonnen. Ich konnte den amtierenden Meister besiegen. Das war bei einem 3.000-Meter-Rennen und ich habe mit mehr als einer Stadion-Runde Vorsprung gewonnen. Von da an, habe ich mich komplett dem Gehen gewidmet. Allerdings bin ich nie ein Profi gewesen, hab also auch kein Geld bekommen und musste sogar einiges investieren, um zu den Wettrennen zu kommen.

Sie haben sehr viele schlimme Dinge in ihrem Leben erlebt, Herr Ladany. Wie gehen Sie eigentlich mit diesen Erinnerungen um?

Ich habe Bergen-Belsen und das Münchner Attentat überlebt. Und ich erinnere mich. Ich erinnere mich an alles. Ich bin kein Fatalist. Ich will die Leute aufklären, damit sie anderen nichts Falsches antun. Nicht mir gegenüber und auch nicht anderen. Aber natürlich gibt es immer Ausnahmen. Man kann Leute darüber aufklären, dass sie niemand umbringen sollen, aber trotzdem passiert es. Und das kann überall sein. Es ist natürlich nicht die Regel. Daher muss man dagegen ankämpfen, damit Leute vielleicht ihr Verhalten ändern könne. Auf diese Weise kann man solche Erlebnisse verarbeiten. 

"Deswegen muss man überall gegen Diktaturen kämpfen. Man muss für Demokratie kämpfen."

Nach all dem, was Sie erlebt, könne Sie überhaupt noch an das Gute im Menschen glauben?

Ich glaube an Menschen. Ich glaube nicht, dass sie böse geboren werden. Manchmal tragen Umstände dazu bei, dass sie Böses tun. Das muss aber verhindert werden. Schauen wir uns Diktaturen an, das muss auch verhindert werden. Diktatoren wollen Macht, Geld und Anerkennung. Lässt man sie das haben, ohne irgendwelche Grenzen zu setzen, also ohne etwas zu unternehmen, werden sie noch brutaler. Deswegen muss man überall gegen Diktaturen kämpfen. Man muss für Demokratie kämpfen. Und auch in einer Demokratie sollte man sich daran erinnern, dass die Mehrheit nicht die Rechte von Minderheiten einschränken darf.

Inwiefern, vermuten Sie, hat Gott bei Ihrem Überleben eine Rolle gespielt?

Ich bin Atheist, glaube also nicht an Gott. In der Welt gibt es so viele Bekenntnisse. In der griechischen Mythologie gibt es sehr viele Götter. Sie glauben nicht an all diese Götter, aber an einen. Der Unterschied ist, dass ich an keinen glaube. Ich bin auch der Meinung, dass die Religionen erschaffen wurden. Am Anfang waren die Menschen noch viel primitiver und sie haben Gesetze gebraucht. Was war erlaubt? Was war nicht erlaubt? Was war gut? Und es unmöglich zu erklären, woher bestimmte Krankheiten kommen und warum ihnen nicht erlaubt was dies oder jenes zu tun. Vor langer Zeit war das notwendig, um sicherzustellen, dass die Menschen an glaubten und wussten, was erlaubt war und dass man bestraft wird, wenn man etwas Böses tut. Aber das ist nicht der Weg, wie wir uns heute als Gesellschaft organisieren. 

Wir würden nun gerne über das Münchner-Olympia-Attentat vor 50 Jahren reden. Oft sprechen Leute dabei vom Fehlverhalten der Polizei. Waren Sie enttäuscht oder wütend über die Entscheidungen der Regierung?

Zuerst muss ich sagen, dass ich die Entscheidung der Regierung begrüße, Verantwortung für das israelische Team und die Geiseln zu übernehmen. Und auch, dass sie versucht haben, diese zu retten. Die deutsche Regierung war ja auch nicht nur zu stolz, sondern wollten auch keine Hilfe von Israelischen Spezialkräften haben, die auf solche Situationen spezialisiert waren. Die deutschen Kräfte hatten wenig Erfahrung. Sie haben ja auch nicht gewusst, wie viele Terroristen es waren. Sie dachten, es waren vier. Aber es waren acht. Ich konnte sie von meinem Quartier aus sehen und habe sie gezählt. Hätte die deutsche Regierung die Hilfe akzeptiert, wäre es anders ausgegangen.

"Vor allem sollte man Leute aufklären – nicht nur in der Schule."

Bis heute erleben wir in Deutschland leider sehr viel Antisemitismus. Wie denken Sie darüber?

Man muss ihn bekämpfen. Und wie das geht, ist durch Aufklärung und Beispiele. Aber nicht nur so, sondern auch durch Regularien und Gesetze. Jemand, der etwas Antisemitisches sagt, sollte dafür bestraft werden. Diese Möglichkeit hat man. Vor allem sollte man Leute aber aufklären. Aufklären nicht nur in der Schule. Man sollte Vorlesungen geben. Und auch bei den verschiedenen Sport-Vereinen, auf der Arbeit und bei vielen mehr.

Nehmen viele Leute das "Nie wieder" nicht ernst genug?

Vielleicht wissen sie nicht darüber Bescheid. Zuerst, muss man die Leute aufklären, was passiert ist in der Vergangenheit. Wir haben es im Vortrag gehört: Wenn den Leuten demokratische Rechte genommen werden, muss die Bevölkerung dagegen aufstehen und das aufhalten. Im Dritten Reich war es so: Als sie begannen die Juden festzunehmen, hat jeder gesagt: "Ich bin kein Jude". Als sie begannen Bibelforscher festzunehmen, haben sie gesagt: "Ich bin kein Bibelforscher". Und als sie mich mitgenommen haben, hatte ich keinen mehr der mir helfen konnte. Am Ende agieren Diktatoren fanatisch. Vielleich hassen sie Blonde oder Rothaarige.

"Was war der Grund, einen Juden zu hassen? Sie machen nur 0,2 % der Weltbevölkerung aus."

In Deutschland gibt es auch viele Stereotypen gegenüber Juden.

Etwas, das maßgeblich durch das Dritte Reich beeinflusst wurde, dargestellt beispielsweise in Karikaturen. Nur, um ein paar wenige Leute zu hassen. Was war der Grund, einen Juden zu hassen? Sie machen nur 0,2 % der Weltbevölkerung aus. Unter den Nobelpreisgewinnern sind es 8 %. Haben sie irgendwas Besonderes gemacht? Nein. Sie schauen nicht mal anders aus. Vielleicht die Orthodoxen. Aber schau ich anders aus als andere? Die meistens Juden schauen aus wie ich. Vielleicht sind sie keine Profi-Athleten, aber das sind doch die meisten Menschen nicht.

"Nur um zu zeigen, wie dumm Antisemitismus eigentlich ist."

Der Hass gegen Juden ist sehr irrational.

Ich kann dazu etwas erzählen: Ich wurde einmal in Nürnberg im Rathaus interviewt, für einen Workshop. An den Wänden waren viele Gemälde. Auf einem Bild waren vier Personen an einem Tisch. Auf der einen Seite drei, gut gekleidet und auf der anderen Seite ein einzelner. Er hatte nichts auf seinem Körper, nur einen Davidsstern mit der Aufschrift "Jude" und einer Dornenkrone auf dem Kopf. Es war Jesus Christus. Warum er einen Stern trägt? Laut den Gesetzen im Dritten Reich sollte er als Jude kategorisiert werden, weil er als solcher geboren worden war und als solcher gestorben ist. Nur um zu zeigen, wie dumm Antisemitismus eigentlich ist.

Shaul Ladany

1936 in Belgrad geboren, ist Shaul Ladanys Kindheit geprägt von Flucht und Vertreibung. Als er sich 1944 mit seiner Familie in Ungarn aufhält, deportieren ihn die Nationalsozialisten nach Bergen-Belsen. Ladany überlebte das Konzentrationslager, als er durch den Kasztner-Transport freigekauft und in die Schweiz gebracht wird. Nach Ende des Krieges zieht er mit seiner Familie nach Israel.

Dort wird Shaul Ladany Ingenieur und lehrt für lange Zeit an der Ben-Gurion-Universität des Negev. Unter anderem publiziert er mehrere Bücher, wie seine Autobiographie „König der Straße-Von Bergen-Belsen nach Olympia“.

Herr Ladany ist leidenschaftlicher Geher und mehrfacher israelischer Meister in dieser Disziplin sowie Weltrekordhalter auf der nicht-olympischen Strecke von 50 Meilen. 1972 hat er an den olympischen Spielen in München teilgenommen. Ladany überlebte das Münchner Olympia-Attentat, da er im olympischen Dorf bei den Sportschützen untergebracht war, die von den Terroristen gemieden wurden, weil diese dort Waffen vermuteten.  

Als Zeitzeuge und Überlebender des Holocausts engagiert sich Shaul Ladany gegen das Vergessen. Oft ist sein Ziel dabei Deutschland, wie zum Beispiel als er im Landtag in Hannover vor den Abgeordneten spricht und erinnert.