Acht Tage und acht Nächte saßen die Menschen im Keller, bangten um ihr Leben und hofften, dass der Spuk, der am 24. Februar 2022 begonnen hatte, demnächst vorbei sein würde. Sie hörten die Schüsse, die in ihrer Nachbarschaft abgefeuert wurden, auf die große Fabrik in Dymer, einer städtischen Siedlung im Großraum Kiew. Kein Strom, keinerlei Informationen – das machte allen in der Straße Angst.

Bei Karina war es mehr.

"Ich habe mein Kind nicht wiedererkannt",

erzählt Oxana. Als sie sich nach oben wagten, sahen sie die zersplitterten Fensterscheiben ihrer Wohnung. Die Familie zog zu Oxanas Eltern, die am gleichen Ort wohnten, aber immerhin zwei Kilometer von der Schusslinie entfernt.

Kurz nach Beginn des russischen Angriffs, am 6. März 2022, folgte der nächste Schlag, der Karinas Welt aus den Fugen hob. Dima, Oxanas Bruder und Karinas geliebter Patenonkel, wurde von russischen Soldaten erschossen. Die 17-jährige Pharmaziestudentin konnte sich an nichts mehr erinnern, war wie weggetreten.

Karina hat Schizophrenie und bipolare Störung

In der Psychiatrie in Kiew, wohin die Familie mit Unterstützung eines freiwilligen Helfers acht Tage später evakuiert werden konnte, wurden die Befürchtungen von Oxana und ihrem Mann Sergej bestätigt: Karina hat eine schwere psychische Erkrankung, die auf Schizophrenie und eine bipolare Störung hindeutet. Zwei Wochen verbrachte das Mädchen in dem zentral gelegenen Krankenhaus der ukrainischen Hauptstadt.

"Immer wieder erreichten Drohnen die Stadtmitte. Die Ärzte empfahlen uns, Karina aus dem Kriegsgebiet zu bringen. Dass ein fremder Soldat, der an der Front kämpfte, uns für die sechsstündige Fahrt in die Westukraine sein vollgetanktes Auto zur Verfügung stellte, war ein Wunder. Mit dem Zug hätten wir sie nicht transportieren können",

erzählt Oxana.

Nach fünf Monaten in der Kinderpsychiatrie war Karina einigermaßen stabilisiert und die Situation in ihrem Heimatort hatte sich beruhigt. Im August 2022 entschieden sich Sergej und Oxana, nach Dymer zurückzukehren, um ihr Haus in Ordnung zu bringen. "Es wurde sehr geplündert, aber der Schaden war kleiner als gedacht. Der Baum im Garten hatte die Drohnen abgefangen und das entstandene Feuer wurde durch den Regen gelöscht", sagt Oxana. Karina habe ihr Studium fortgesetzt. Ein Stückchen Normalität scheint wiedergefunden.

Im Sommer 2023 nimmt Karina einen Ferienjob als Kellnerin an und wird nach einer Woche wieder entlassen. Auch in einem zweiten Café scheitert sie. Die Mutter sieht die Veränderungen in ihrem Verhalten und fährt mit ihr in die Westukraine zurück, wo ein weiterer stationärer Aufenthalt und medikamentöse Einstellung erfolgen. Trotzdem verschlechtert sich der Zustand. Der häufig wiederkehrende Alarm, Stromausfälle, Ausgangssperren und Beschüsse machen ihr große Angst. Den Eltern wird klar, dass sie ihre Tochter von hier wegbringen müssen.

Keine leichte Entscheidung

Da erreicht Oxana eine Nachricht von Irina, einer Geschäftspartnerin ihres Mannes. Diese war bereits im Mai 2022 der Hölle von Butscha entronnen und lebt jetzt im südwestdeutschen Backnang, samt Hund und Katze. Irina ermutigte sie zur Ausreise und sicherte ihr Unterstützung zu.

Leicht war die Entscheidung dennoch nicht. Oxana musste ihren Mann zurücklassen und die 42 Stunden Busfahrt mit Karina Anfang Januar 2024 seien herausfordernd gewesen, so die Mutter.

Jana Reichert ist Leiterin des Projekts "In2life" im Backnanger Verein "Zukunftswerkstatt Rückenwind". Sie kümmert sich um geflüchtete Familien, die einen Angehörigen mit Handicap zu versorgen haben, organisiert Hilfe, die von offiziellen Stellen nicht abgedeckt wird. Irina erzählt ihr von Oxana und Karina.

In Zusammenarbeit mit der Stadt Backnang gelingt es, sonst übliche bürokratische Wege abzukürzen. Eine Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft, wie sonst zunächst üblich, sei angesichts von Karinas Zustand nicht möglich gewesen, so die junge Psychologin. Dass die beiden Neuankömmlinge mit Irina eine Wohnung beziehen können, ist ein Glücksfall. Mit einem Behandlungsschein für Notfälle wird Karina, die ein sehr auffälliges Verhalten zeigt, in der Psychiatrie Winnenden aufgenommen.

Ein Happy End zu dieser Geschichte gibt es (noch) nicht. Doch Oxana ist sehr dankbar für die Ruhe und Sicherheit in diesem Land und hat Vertrauen in die deutschen Ärzte. "Jetzt habe ich Hoffnung", sagt sie.

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