"Wir sind nicht allein!", ruft Murad Vardanian, Bürgermeister des armenischen Dörfchens Hawresk. Seine kleine Gemeinde nicht weit vom Tigris steht beispielhaft für die Situation vieler Christen in der Region: Gegründet nach dem Genozid an den Armeniern vor etwa 100 Jahren, geriet sie Mitte der 1970er-Jahre zwischen die Fronten des irakischen Regimes und der Kurden. Viele Bewohner flohen in Städte wie Bagdad oder Mossul. Murad Vardanian war damals 22. Nach der US-Invasion von 2003 gerieten die Christen wieder zwischen die Fronten: Viele flüchteten zurück nach Hawresk in das mittlerweile autonome Kurdengebiet.

Hawresk hat sich seither verändert. Mehr als 120 gleich gestaltete kleine Häuschen stehen in der Gluthitze des trockenen Landes, mithilfe der bayerischen Landeskirche wurde hier eine neue Kirche gebaut, und es sind einige hilfreiche Projekte entstanden, mit denen die Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen können: ein Gewächshaus, eine Bäckerei und eine Imkerei, deren Honig unvergleichlich schmeckt. Und doch ist dieses an den biblischen Paradiesflüssen gelegene Land in jeder Hinsicht weit weg von dem Land, in dem Milch und Honig fließen.

Ninive-Ebene bis Anfang 2017 Kriegsgebiet

Immer noch wandern Menschen aus – auch aus Hawresk. Die nun leer stehenden Häuser werden von Flüchtlingen aus Mossul und Umgebung bewohnt. Von den 82 Familien, die der Bürgermeister und seine Leute im Sommer vor vier Jahren vor dem anrückenden "IS" aus der Ninive-Ebene retteten und mit ihren Autos in mehreren Fahrten nach Hawresk holten, leben heute noch 36 im Dorf. Stolz weist der Bürgermeister auf die Hilfe hin, die sein Dorf in dieser Not leisten konnte, und dankt den kirchlichen Partnern in Europa, die das mit ermöglicht haben. Dass er sich aber nicht nur auf sie und auf Gott verlässt, zeigt der Blick in sein Wohnzimmer mit der geradezu erschreckend martialischen Zurschaustellung einer Sammlung an Waffen.

Durch Flucht und Vertreibung weitgehend entvölkert, vom "Islamischen Staat" und den Befreiungsschlägen durch die US-Luftwaffe verwüstet, waren weite Teile der Ninive-Ebene vor den Toren Mossuls zwischen Sommer 2014 und dem Frühjahr vergangenen Jahres Kriegsgebiet.

Hawresk in der Ninive-Ebene im Nordosten des Irak
Das armenische Dorf geriet immer wieder zwischen die Fronten: Hawresk in der Ninive-Ebene im Nordosten des Irak.

Bevölkerung kehrt in die Ninive-Ebene zurück

Politisch umstrittenes Gebiet zwischen Kurdischer Autonomieregierung und Irakischer Zentralregierung ist diese Region nach wie vor geblieben. Alles, was derzeit aufgebaut wird, kann nicht mit staatlicher Hilfe rechnen und ist stattdessen selbst für irakische Verhältnisse mit erhöhten Unwägbarkeiten verbunden. Ja, der "IS" sei zwar militärisch besiegt, aber nicht in den Köpfen, hört man hier. Groß ist die Sorge vor seiner Rückkehr unter anderem Namen, in anderer Form. Umso überwältigender ist, was sich derzeit bewegt.

Pfarrer Jacob und Diakon Imad rollen einen großen Rekonstruktionsplan von Bartella auf, der zeigt, was renoviert oder wiederaufgebaut werden muss. Das Syrisch-Orthodoxe Wiederaufbau-Komitee will in dem kleinen Ort in der Ninive-Ebene, rund 21 Kilometer östlich von Mossul, zunächst den Familien aus der eigenen Gemeinschaft beim Wiederaufbau helfen, dann aber auch Menschen anderer Konfessionen und Religionen, wie sie beteuern.

Bayerische Landeskirche hilft in Bartella

Die Schäden werden nach den Kategorien A bis C eingeordnet, wobei A totale Zerstörung, B ausgebrannte Häuser und C geringere Schäden kennzeichnen. Die Projekthilfe der Landeskirche konzentriert sich in Bartella und Umgebung derzeit auf 67 Häuser der Kategorie C, wo mit einigen Hunderttausend Euro bereits viel geleistet werden kann. Tatsächlich zeigen sich bereits viele Straßenzüge wieder als gut bewohnbar, doch manch frisch renoviertes Haus teilt sich die Nachbarschaft noch mit einem total zerstörten.

Zwischen 30 und 70 Prozent der Bevölkerung seien in die meisten Orte der Ninive-Ebene wieder zurückgekehrt, berichtet Pfarrer Jacob.

Nicht allein ist man hier aber auch in einem anderen Sinne. Das ist im benachbarten Bashiqa sichtbar, das manche auch den "Irak im Kleinen" nennen: Neben den Kirchtürmen mit ihren Kreuzen finden sich die Türme eines Jesidentempels mit ihren bunten Wimpeln und die Minarette von Moscheen der schiitischen Minderheit der Schabak.

Pfarrer Jacob und Diakon Imad in Bartella.
Hoffnungsfroh: Pfarrer Jacob und Diakon Imad in Bartella.

Überfall des IS sorgte für tiefes Misstrauen

Durch Emigration, Rückkehr und Neuansiedlung verändern sich die Verhältnisse in diesem Mosaik nun deutlich. Mit Unterstützung schiitischer Milizen, die auch an der Niederschlagung des "IS" in Mossul beteiligt waren, werden die Schabak nun vor allem im benachbarten Bartella langsam zur Mehrheit. In einer Gesellschaft, in der das staatliche Gewaltmonopol wenig gilt und Macht über Zugehörigkeit zu ethnischen und religiösen Gruppen ausgetragen wird, nehmen Minderheiten dies als Bedrohung wahr.

Die Erfahrung, dass langjährige Nachbarn nach dem Überfall des "Islamischen Staats" ihre andersglaubenden Nachbarn verrieten und sich an deren Besitz vergriffen, hat tiefes Misstrauen gesät und hindert die allermeisten Christen daran, etwa nach Mossul zurückzukehren.

Muslime helfen christlichen Nachbarn

Doch es gibt auch andere Geschichten, die deutlich machen, dass Verfolgte auch in größter Not von manchen Nachbarn unter Risiko des eigenen Lebens nicht alleingelassen wurden. Abd el Salam – es ist, als wäre der Name des 40-jährigen Sportlehrers Programm: "Diener des Friedens". Er besucht einen durch deutsche Kirchen finanzierten Weiterbildungskurs in der kurdischen Autonomieregion. Ernst und traurig ist sein Blick; man mag sich nicht ausmalen, was er erfahren musste. Auch er will nicht mehr nach Mossul zurück.

Der sunnitische Muslim berichtet, dass er selbst fliehen musste, nachdem er zwei christlichen Nachbarinnen zur Flucht verholfen hatte, da sie den Ernst der Lage nicht rechtzeitig erkannt hatten. Unter widrigen Umständen hat er sie selbst aus der Stadt begleitet, dann einen Christen drei Wochen in einem Haus versteckt und ihm schließlich falsche Papiere besorgt, dass er sein Leben durch Verlassen der Stadt retten konnte.

Gegen die Kategorisierung nach Freund und Feind

Fragt man junge Menschen, ob Christen, Muslime oder Jesiden, Kurden, Araber oder Assyrer, sei es in Sprachkursen, Berufsweiterbildungsklassen oder in Kirchengemeinden, so wird deutlich: Sie haben es satt – die Kategorisierung von Menschen nach Freund und Feind entlang ethnischer und religiöser Linien, die Sorge um zu viel Macht und Bevölkerungsanteil einer anderen Gruppe. Die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres ganz persönlichen Lebensentwurfs. Die wirtschaftliche Not.

"Wir haben die Geduld verloren", sagt der erst 19-jährige Baha aus der Stadt Dohuk im Kurdengebiet, der Modedesigner werden will und nicht auf seine Religionszugehörigkeit angesprochen werden möchte. "Wir haben die Hoffnung verloren, während wir aufgewachsen sind", sagt er.

Der Kirchenchor in Bachitme in der Ninive-Ebene.
Der Kirchenchor in Bachitme in der Ninive-Ebene.

Jugendliche wollen säkularen Staat

Und doch werden aus der Gruppe an Jugendlichen um ihn Stimmen laut, die für die Zukunft hoffen lassen. Sie sind dafür, einen säkularen Staat zu fördern, sie wollen gleiche Rechte für alle, die Menschenrechte gewährleisten und die Korruption bekämpfen. Das wünschen sich die meisten – und sie sehen ihre Zukunft in diesem Land. Sie wollen dazu beitragen, dass sich das Denken verändert. Von der westlichen Politik erwarten sie, dass sie politische, kulturelle und militärische Institutionen in ihrem Land ansiedelt. "Wir erwarten keine Truppen, aber Institutionen. Durch deren Präsenz könnte man uns nicht mehr so leicht angreifen!"

Wer mit dem Erziehungsminister im kurdischen Erbil spricht, erhält den Eindruck, dass die Jugendlichen in ihm einen Verbündeten in der Politik haben. Minister Pshtiwan Sadia arbeitet daran, bereits für das neue Schuljahr den Lehrplan für alle Schulen so zu verändern, dass die verschiedenen Religionen gleichberechtigt und mit Respekt behandelt werden.

Hoffnungslosigkeit in Al Qosh

Wenig erstaunlich ist es, dass die Hoffnung auf eine bessere Zukunft dort größere Chancen hat, wo auch die wirtschaftliche Situation Perspektiven zulässt. Ganz anders im christlichen Städtchen Al Qosh am Rande der Ninive-Ebene, das von der Belagerung durch den "IS" verschont geblieben ist. Dort herrscht eine Stimmung, als wehte der Geist des Unheilspropheten Nahum aus seinem naheg elegenen Grab durch das Klassenzimmer. Nahum war es, der vor mehr als 2600 Jahren den Untergang Ninives prophezeit hatte.

Die etwa 20 jungen Menschen in der Klasse für fortgeschrittenes Englisch wollen fast alle auswandern. "Was gibt es hier schon?" fragen sie. Und tatsächlich gibt es hier kaum Programme, wie sie in benachbarten Dörfern und Städten durchgeführt werden, nämlich durch Mikrokredite Existenzgründungen zu fördern.

Vielleicht ist es für christliche Gruppen hier auch so schwer, das Erlebte aufzuarbeiten, weil man noch kaum darüber redet, meint Andreas Selmeci von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit mit Büro in Bagdad. Normalerweise dauere es ja Jahrzehnte, bis Aufarbeitungsprozesse in Gang kämen. Ob man hier etwas von den Jesiden lernen könne, fragt er: Seines Wissens sei es einmalig in der Geschichte, dass eine verfolgte Gruppe quasi am Tag nach traumatischen Ereignissen vor die Mikrofone der Weltpresse trete und in der Lage sei, über das Erlebte zu sprechen. Wie kann es das geben?

Traum von einer Versöhnung der Religionen: die Kurdische Flagge, in der Sonne die Symbole der Muslime, der Jesiden und der Christen.
Traum von einer Versöhnung der Religionen: die Kurdische Flagge, in der Sonne die Symbole der Muslime, der Jesiden und der Christen.

Familie und Ausbildung als größte Wünsche

Was er berichtet, bestätigt sich im Gespräch mit der 18-jährigen Jesidin Adila (Name geändert), die in einem Flüchtlingslager bei Dohuk ruhig und konzentriert berichtet, was ihr angetan wurde. Und doch wird deutlich, wie viel Kraft es sie kostet, die Fassung zu bewahren: Die Familie auseinandergerissen, der Verbleib der Eltern bis heute unbekannt. Sie, ihre Schwester und drei Neffen vom "IS" gefangen genommen. Zwangsverheiratet als zweite Frau mit dem Sohn einer IS-Familie in einem Ort bei Mossul. Adila konnte nach längerer Zeit fliehen.

Wenn sie drei Wünsche frei hätte, was würde sie sich jetzt wünschen? Langsam, aber klar kommt die Antwort: Erstens: wieder mit der ganzen Familie zusammen sein zu können. Zweitens: eine Ausbildung zu bekommen, die es ihr ermöglicht, ihrer Familie zu helfen. Drittens: Lehrerin für Kinder zu werden.

Gemeinschaft steht im Mittelpunkt der irakischen Christen

Kein Wort von Rache, Vergeltung oder Ähnlichem. Und ein Verantwortlicher des Flüchtlingslagers benennt den Schlüssel für die Offenheit, mit der jesidische Frauen über ihr Schicksal sprechen konnten: "Es war ganz klar, dass sie hier bei ihren verbliebenen Familienmitgliedern und im Lager akzeptiert und in die Gemeinschaft mit hineingenommen wird, egal, was sie erlebt hat, egal, was man ihr angetan hat."

Ob das vielleicht ein Charakteristikum der jesidischen Gemeinschaft für den Umgang mit dem Schrecken ist, der den offenen Umgang damit ermöglicht? Adila ist nicht allein. Das hörte man aus ihren Worten heraus.

Wie gelingen positive Veränderungen?

Bei christlichen Gemeinschaften sei es dagegen schwer, das Geschehene für eine eventuelle Dokumentation zu erhalten, berichtet Selmeci von der GIZ. Dass Waffen nicht der Schlüssel für eine positive Veränderung in der Region sein können, wird immer deutlicher, je mehr sich die Komplexität der Situation und der Interessen zeigt.

Die Hoffnung beginnt im Kleinen: Pfarrer Daniel von der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Bashiqa möchte den Kindergarten wiederaufbauen. Der "IS" hat ihn zum Gefängnis gemacht. Die US-Luftwaffe hat ihn bombardiert. Jetzt ist der Schutt weggeräumt. "Wir wollen hier wieder einen kirchlichen Kindergarten aufbauen, der nicht nach der Herkunft der Kinder fragt: ob Christen, Muslime oder Jesiden. Sie sollen hier alle gemeinsam aufwachsen in Liebe und Respekt. "

Denn sie sind nicht allein.

Christen im Irak: Wie die bayerische Landeskirche hilft

Die von der Landeskirche geförderten Projekte werden vom christlichen Hilfswerk CAPNI (Christian Aid Program for Northern Iraq) und über den Lutherischen Weltdienst durchgeführt. Die Landeskirche, andere lutherische Kirchen und die EKD haben in Dohuk ein neues Zentrum für CAPNI gefördert, das sich als eine Art Haus Kirchlicher Dienste für die Christen im Irak versteht.

Spenden auf das Konto der Landeskirche bei der Evangelischen Bank, DE57 5206 0410 0001 0101 07, Stichwort "Christen helfen im Irak" kommen direkt den Partnerorganisationen, die vor Ort Hilfe leisten zugute.