Der neue Judenhass tarnt sich als "legitime Kritik an der Politik Israels". Ein Molotowcocktail auf eine Synagoge, ein Mordanschlag auf einen Rabbiner, das Verprügeln jüdischer Schüler – alles gilt inzwischen in manchen Kreisen als Israelkritik. Medien und politische Parteien in Europa sind sich einig: Schuld ist nur der Nahostkonflikt.

Das Trauma des Holocaust führte nicht dazu, dass man als Europäer Juden besser leiden kann, sondern nur, dass man nicht "Antisemit" genannt werden will. Israelkritik jedoch ist legitimiert. Und zwar in der geschmeidigen Form "Kritik an Israels Regierung". Man hasst Israel dafür, dass es stark ist, man hasst es dafür, dass es an die eigenen Sünden erinnert. Man hasst es am meisten dafür, dass es jüdisch ist. Und man hasst die europäischen Juden mit der Begründung, dass sie als Juden ja vielleicht pro-israelisch sein könnten. Dabei haben viele Juden in Frankreich, Deutschland oder England erst einmal gar keine Verbindung mit dem jüdischen Staat.

"Wir hassen keine Juden, sagten sie im Mittelalter, nur ihre Religion. Wir hassen keine Juden, sagten sie im 19. Jahrhundert, nur ihre Rasse. Wir hassen keine Juden, sagen sie jetzt, nur ihren Nationalstaat. Antisemitismus ist der am schwersten zu besiegende Hass, weil er wie ein Virus mutiert; aber eines bleibt gleich: Juden, ob Religion oder Rasse oder Israel, werden zum Sündenbock für Probleme gemacht, für die alle Seiten verantwortlich sind. So beginnt der Weg zur Tragödie." So fasste Lord Rabbi Jonathan Sacks im britischen Oberhaus das Phänomen zusammen.

Letzter Ausweg: Israel

Judenhass ist höchst vital, und jeder Mutation des Virus folgt eine Reaktion: Juden konvertierten zum Christentum oder Islam, Juden verstecken ihr Judentum und hoffen, dass man sie nicht erkennt, Juden werden selbst zu Israelkritikern und hoffen so, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, und sie sind hochwillkommen bei denen, die den Judenstaat ablehnen und nicht als Antisemiten gelten wollen. Und als letzten Ausweg für die, welche unbehelligt als Juden leben wollen, gibt es Israel.

Die Zahl der Juden in Deutschland wuchs von etwa 20.000 auf fast 100.000 dank der Einwanderung aus der Sowjetunion. Es handelt sich um die sogenannten Kontingentjuden, denen Deutschland die Tore geöffnet hatte. Weil es deutschen Behörden streng verboten ist, nach der "ethnischen Zugehörigkeit" zu fragen, sind die meisten Statistiken unzuverlässig und in jedem Fall unvollständig. So können nur jene Juden gezählt werden, die sich bei einer Synagogengemeinde eingetragen haben.

Viele Juden aus der Sowjetunion wurden diskriminiert, weil in ihrem Ausweis "Jevräi" (Hebräer) stand; doch waren sie unreligiös und deshalb auch nicht eingetragene Mitglieder einer Synagoge. In Deutschland waren sie dann nur noch "ehemalige Russen". Genauso, wie manche Christen aus der Kirche austreten, um Kirchensteuer zu sparen, gibt es viele Juden, die sich nicht veranlasst sehen, Mitglieder einer Synagogengemeinde zu sein. Die werden dann von den Statistiken nicht mehr erfasst. Die Zahl der nicht erfassten Menschen, der nicht offiziell gemeldeten, dürfte wesentlich höher sein als die Zahl der Gemeindemitglieder.

"Israelkritische" Juden

Nicht erfasst sind auch Tausende junge Israelis, die es vor allem nach Berlin zieht und unter denen auffällig viele "Israelkritiker" sind. "Israelkritische" Juden sind vielleicht die tragischsten Gestalten unter den Opfern des Antisemitismus: Um anerkannt zu werden, helfen sie mit, den Staat infrage zu stellen, der sie vor dem Hass schützen könnte. Solange sie nachweisen können, eine jüdische Mutter zu haben, können sie jederzeit nach Israel zurück. Aber ob sie auf diese Weise wirklich dem Antisemitismus entgehen, ist fraglich.

Die einzige zuverlässige Quelle für die Zahl deutscher Juden, die nach Israel ausgewandert sind, ist das statistische Amt Israels. Dort wird gemäß den Herkunftsländern aufgelistet, wie viele Menschen die israelische Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten haben. Damit ist dann klar, dass sie "eingewandert" sind. Im Falle Deutschlands sind die Zahlen minimal. Nach der Gründung Israels 1948 und bis 1951 ließen sich noch 8210 deutsche Juden in Israel einbürgern. Doch in den Jahrzehnten danach gingen die Zahlen stark zurück. Pro Jahr kamen nur noch etwa 100 Juden aus Deutschland nach Israel. In den Jahren von 2016 bis 2017 stieg die Zahl der jüdischen Auswanderer aus Deutschland von 114 auf 155. Von einer "Massenflucht" kann also keine Rede sein.

Juden verstecken ihre Kippa um nicht angegriffen zu werden

Wer in Deutschland seine Kippa abnimmt und sein Jüdischsein versteckt, hat keine Probleme. Die Entscheidung jüdischer Deutscher für Israel ist dagegen eine bewusste Entscheidung zum Judentum: Junge Ehepaare äußerten den Wunsch, ihren Kindern eine möglichst "natürliche Umgebung" und "Erziehung" zukommen zu lassen. Oberstufenschüler wollen ihre Kippa tragen.

Ein typisches Beispiel ist der Eindruck einer Besucherin in Jerusalem: Für sie war es ein "atemberaubender" Anblick, lauter kleine, als jüdisch erkennbare Kinder unbekümmert und sorglos auf den Straßen spielen zu sehen, während in ihrer Heimatstadt in Deutschland die Kinder der jüdischen Schule hinter hohen Mauern lernen, mit einem Streifenwagen vor dem Eingangstor. Wenn sie sich auf den Heimweg machen, verstecken sie ihre Kippa und andere Erkennungszeichen, um nicht angegriffen zu werden, von Rechtsradikalen oder von Moslems.

Die Zahlen aus Österreich sind noch eindeutiger. 1948 kamen noch 2632 Juden aus Österreich nach Israel. Die Zahl der Auswanderer sank bis 2016 und 2017 auf jeweils nur noch 17 und 26. Für die Schweiz werden relativ konstante Zahlen genannt. 1948-1951 waren es 131. In den Jahrzehnten danach waren es weniger als 100 pro Jahr. Diese Zahl sank weiter auf 64 im Jahr 2016 gegenüber 84 im Jahr 2017. Überraschend hohe Zahlen werden zu Großbritannien gemeldet. Zwischen 394 und 556 Briten ließen sich 2016 und 2017 in Israel nieder. In den Jahrzehnten davor waren es jeweils etwa 700 pro Jahr.

In Frankreich wird die Situation für Juden immer schwieriger

Mit der Staatsgründung Israels begann eine beispiellose Verfolgungswelle: Fast alle Juden aus Nordafrika und den arabischen Staaten wurden enteignet und vertrieben. Viele der heute rund 600.000 französischen Juden zogen damals nach Frankreich und ließen sich in Armutsvierteln rund um Paris oder Marseille nieder. Sie wohnen als Arme unter Armen mitten unter muslimischen Franzosen, die ebenfalls ursprünglich aus Algerien, Ägypten und dem Senegal kamen und den Judenhass schon mitbrachten.

In dieser Umgebung kann man nur schwer seine Herkunft verstecken. So kam es zu brutalen Überfällen und Morden. Diese Ereignisse führten in Frankreich zu einer Fluchtwelle, wie sie auch aus den israelischen Statistiken herauszulesen ist. Allein 2017 meldeten sich 3157 Franzosen im israelischen Innenministerium an, um einen israelischen Pass zu beantragen. 2017 waren es 2441 und im Jahr davor 3267. In den 15 Jahren ab 2000 waren es über 28.000.

Gerade der Vergleich mit den deutschsprachigen Ländern zeigt, dass es sich in Frankreich um ganz andere Dimensionen handelt.

In der offiziellen Statistik von 1948 bis 2017 werden die Gründe für die Einwanderung nach Israel nicht genannt, gleichwohl bieten die Zahlen Rückschlüsse zu, deren Hintergründe aus anderen Quellen wohlbekannt sind. In den Gründerjahren Israels von 1948 bis 1951 wanderten die meisten Juden nach Israel ein, insgesamt 687.624. Hierbei handelte es sich vorwiegend um Holocaust-Überlebende aus ganz Europa.

237.704 kamen aus asiatischen Ländern, darunter 21.910 aus Iran, 34.547 aus der Türkei, 123.371 aus dem Jemen. Hierbei handelt es sich um die massenhafte Vertreibung fast aller Juden aus muslimischen Ländern. Die Nahostkriege von 1967, 1973 und der Krieg im Libanon 1986 führten zu weiteren Massenfluchten.

Weil nur noch wenige Juden in den arabisch-muslimischen Ländern verblieben waren, reduzierte sich hier auch die Zahl der Einwanderer nach Israel. 2016 kam nur noch ein einziger Jude aus Afghanistan. Die Einwanderung von Syrien lag im Jahrzehnt ab 1990 bei 1646 Personen, während 2017 nur noch zwei Syrer als Einwanderer registriert wurden. Aus dem Jemen kamen bis 1951 ganze 48.315 Personen, während es 2017 nur noch neun waren. Aus den asiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion (Uzbekistan, Georgien) kamen ab 1990, als das Sowjetreich zusammenbrach, über 77.000 Juden, während 2017 nur noch knapp 400 gezählt wurden.

Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten

Ähnliche Kurven kann man auch in Europa beobachten. Die höchsten Zahlen gab es 1948 mit 332.802 Einwanderern, offenbar Holocaust-Überlebende. Eine noch größere Zahl, 811.059, wurde ab 1990 für die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion registriert. Juden verließen osteuropäische Länder wie Bulgarien, Ungarn und Jugoslawien zu Tausenden ab 1948.

Für sie alle wurde Israel zu einer "sicheren Heimstatt", wie es der Zionist Theodor Herzl 1897 erträumt hatte. Die Gründung des Staats Israel am 14. Mai 1948 war dafür die Voraussetzung.

Genauso wichtig ist es für diese Menschen, dass dieser Staat weiter existiert. Kurz vor der Staatsgründung prognostizierte die CIA in einem Geheimdossier, dass ein Staat Israel im Nahen Osten kaum länger als zwei Jahre überstehen werde. Inzwischen sind über sieben Jahrzehnte vergangen, unter einer wachsenden Bedrohungslage. Israel existiert noch immer; auch als einzige Demokratie im Nahen Osten.

Wer die täglichen Vernichtungsdrohungen des Iran, der Hisbollah im Libanon oder der Hamas in Gaza als "leere Rhetorik" abtut und Israels militärische oder politische Reaktionen darauf verdammt, hat nicht den tiefen Sinn dieses Staats als Hort der Zuflucht für ein seit Jahrhunderten verfolgtes Volk verstanden.