Ich mag Beerdigungen. Und ich mag sie vor allem deswegen, weil ich so gerne Geschichten höre. In dem Gespräch, das ich vor einer Trauerfeier mit den Hinterbliebenen führe, höre ich nämlich vor allem Geschichten. Von der ersten großen Liebe von Opa Helmut, die er dann erst nach Jahren wiedergetroffen hat. Von der Art und Weise, wie die Oma es geschafft hat, jeden Sonntag zu etwas Besonderem zu machen.

Und immer wieder bin ich fasziniert davon, wie schnell zwischen uns ein Vertrauen entsteht. Die Angehörigen erzählen mir so viel Persönliches, obwohl wir uns gar nicht kennen - vielleicht auch gerade deswegen: Ich bin unvoreingenommen und erwarte nichts von ihnen, höre zu und frage nach. Die Nähe, die dabei entstehen kann, ist für viele Menschen ein fester Halt in ihrer Trauer.

Ich höre Geschichten vom Anfangen, vom Aufhören, Aufgeben. Vom Kaputtgehen und vom Verzeihen.

Es sind nur Bruchstücke, die ich da höre. Aber trotzdem: Der Mensch, den ich meistens nicht gekannt habe, bekommt ein Gesicht. Ein Leben breitet sich vor mir aus. Bei meinen ersten Beerdigungen habe ich noch versucht, alle Details im Leben des Verstorbenen zusammenzutragen, zu verstehen, einen roten Faden darin zu erkennen. Inzwischen ist es anders: Ich frage nach den kleinen Marotten der Oma, nach ihrem Lieblingsessen und danach, welchen Traum sie sich eigentlich noch hätte erfüllen wollen. Manchmal schauen wir zusammen Fotos an. Brauchen Taschentücher. Aber fast immer lächeln wir unter Tränen.

Wenn jemand sehr jung oder besonders unerwartet gestorben ist, verändern sich die Gespräche. Dann sind Wut und Schmerz im Raum. Ein Schmerz, der den Menschen manchmal die Luft zum Atmen nimmt und hilflos macht. Nicht jedes Leben war "zu Ende gelebt". Und auch als Pfarrerin habe ich dafür keine Erklärung.

Nach dem Treffen mit der Familie setze ich mich mit meinem Kaffee an den Schreibtisch und fasse meine Notizen zusammen. Ich habe ein Bild von dem Menschen vor Augen, an den wir bei der Aussegnung denken - und mit diesem Bild schreibe ich die Predigt.

Am Tag der Beerdigung liegt ein Hauch von Aufbruch in der Luft.

Wenn ich die Trauergemeinde vor der Kirche treffe, spüre ich fast so etwas wie Hoffnung. Meine Routine trägt etwas dazu bei, dass die Menschen ruhiger werden. Denn ich weiß, was ich tue - auch wenn die Angehörigen noch nicht wissen, wie sie sich gleich fühlen werden.

Im Gottesdienst sehe ich dann, wie sie sich an den Verstorbenen erinnern. Wie sie lächeln wenn ich von dem Teppich erzähle, der bei der Mama immer in eine Richtung gesaugt werden musste. Wie ihnen dann wieder die Tränen kommen. Auch ich habe manchmal Tränen in den Augen, wenn ich sehe, wie schmerzhaft der Verlust für jemanden ist. Aber trotzdem werde ich nicht selbst traurig dabei: Mein Job ist es in diesem Moment, Trost und Hoffnung auszustrahlen. Die Hoffnung darauf, dass der Himmel weit offen steht. Denn daran glaube ich: Dass Gott tiefe Wunden heilen kann. Dass er uns der Traurigkeit nicht ausliefert. Ich glaube an das ewige Leben. Aus diesem Glauben heraus kann ich beten und reden, auch wenn mich die Trauer der Menschen tief berührt.

Ich selbst habe noch keinen Menschen verloren, der mir sehr nahestand. Nur weil mein Beruf mich immer wieder mit dem Tod konfrontiert, heißt das nicht, dass ich mich besser auf diesen Schmerz vorbereitet fühle.

Aber ich darf immer wieder erleben, dass am Grab neben der Trauer auch die Liebe ihren Platz hat. Und die Zuversicht, dass Gott alle Tränen abwischen wird. Irgendwann.

Der Himmel ist offen - das spüre ich besonders bei Beerdigungen.

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