In der Offenbarung der Bibel wird visionär geschildert, wie im Himmel eine etwa halbstündige Stille entsteht, als "das Lamm das siebente Siegel" eines geheimnisvollen Buches aufbricht. Eine großartige Vorstellung: Stille, eine ganze halbe Stunde lang! Andererseits - so der Seher Johannes - wird danach gleich wieder ein Riesenspektakel mit Posaunen, mit Donner und Doria losgehen. Wenn selbst im Himmel, dem doch alle Möglichkeiten offenstehen sollten, die Stille nur dreißig Minuten währt...

Dabei wäre eine staade, stille, heilige Zeit im Advent und an Weihnachten wirklich zauberhaft. Hölderlins "wie der Sternenhimmel bin ich still und bewegt" spiegelt zufriedenes, schweigsam aktives Befinden in der weihnachtlichen Dunkelheit wider, die Harmonie zwischen Geist, Natur und der göttlichen Macht. 

Natürlich: Lebensgeräusche sind notwendig und beruhigend, soll das Gefühl für die Gewähr der eigenen Existenz sich einigermaßen selbstverständlich einstellen. Elia, der legendärer Prophet Israels, wartet auf eine Gottesbegegnung. Sie findet statt, als ein "stilles, sanftes Sausen" eintritt. Im Krawall gibt es außer Lärm nichts zu entdecken, muss und kann sich keiner selbst, geschweige denn anderem begegnen. Vielleicht wird Krach in jeder Form so oft inszeniert, um der eigenen Langeweile zu entgehen.

Lautlose Stille macht Angst, weil man in ihr die völlige Abwesenheit vom Dasein erahnt, den Tod.

Ein stilles, sanftes Sausen dagegen ist mittendrin, ist Leben zwischen leerem Nichts und lärmender Leere. Deshalb könnte man, statt herum zu lärmen, Chet Baker hören. Er ist der Interpret eines langsamen, bluesigen Jazz. Melancholisch zieht er vorwärts und vermittelt in seiner "Silent Night" mit vielen Pausen zwischen leisen, wenigen Trompetentönen unendlich viel Gefühl. Da kommt einer, das hört man, aus innerer Stille heraus. Seine Noten, wehmütig verwischt oder kristallklar ausgespielt, existieren in einer eigenen puren Ruhe.

Stille ist nicht die Abwesenheit von Geräuschen. Das gibt es nicht. Stille und Laute interpretieren sich gegenseitig, verleihen sich ihre jeweilige Qualität. Eine verlässliche Dauer und damit Begrenzung geben der Stille ihren Sinn. Kunstvolle Pausen erzeugen Tonphantasien, Hören lässt eigene Vorstellungen in Kopf und Herz entstehen, Sehen ohne Worte macht Phantasie lebendig. Was den Verstand bereichert und der Seele Flügel verleiht, ist der Verzicht auf "alles", die kluge Reduktion. Weihnachtliche Stille ist, wenn sich die eingekrampfte, zerknitterte Seele ausbreitet, der flache Atem tief wird. Sein, für sich sein. Mit anderen behutsam schweigen. Gemeinsam stillhalten ist fragloses Einvernehmen, der Luxus, sich am anderen ohne Worte freuen zu können. Einfach da sein - sowas Jenseitiges gibt es auf Erden. Für den, der's mag, an Weihnachten auch länger als eine halbe Stunde. Ein gesegnetes, ruhiges Fest.

 

Susanne Breit-Keßler war bis zum 1. Dezember Münchner Regionalbischöfin und Ständige Vertreterin des bayerischen Landesbischofs. Die evangelische Theologin und Journalistin gehört seit vielen Jahren zum Autorenkreis der epd-Serie "Wort zum Feiertag".