Verschenktes Potential

Mandalas malen und die Kunst, mit vielen Worten nichts zu sagen. Reli-Gelaber. Der Sekundenzeiger bewegt sich so langsam, als würde er von einem unsichtbaren Band zurückgehalten. Und das Schlimmste daran: Ich weiß, Reli könnte so interessant sein!  

So ging es mir früher oft im Unterricht. Ein verschenktes Potential - denn in der eigenen Beschäftigung mit Religion fand ich paradoxerweise das Interessanteste, was es zu lernen gibt: sich eine eigene Meinung über die Welt zu bilden. Darüber nachzudenken, wie diese Welt funktioniert und wie all das, was wir acht Milliarden Menschen denken, tun und fühlen, doch irgendwie zusammenhängt. Wissen wollen, "was die Welt im Innersten zusammenhält" - das ist immer noch relevant, gerade weil es keine einfachen Antworten gibt.  

Sich orientieren in einer immer komplexeren Welt

Unsere Gesellschaft wird immer säkularer. Glaubensinhalte werden von immer weniger Menschen geteilt – macht das Fach Religion da noch Sinn? Ja, es wird sogar dringender gebraucht als früher: In einer Welt, in der Religion und Weltanschauung grundsätzlich infrage gestellt werden, ist die Auseinandersetzung damit notwendiger denn je, denn der Einzelne muss sich in allen Fragen selbst entscheiden können – und auch entscheiden dürfen. 

Dieser Prozess ist durch die Globalisierung noch komplexer und unüberschaubarer geworden. Leben und Lebensführung werden in unendlich vielen Varianten gedacht und gelebt – und wir bekommen immer mehr davon mit.

Brauchen wir noch Religionsunterricht? Diskutiert mit!

Einen eigenen Standpunkt finden

Wie gehen wir mit dieser Vielfalt um? Wer nicht gelernt hat, kritisch zu denken, kann immer noch nachplappern, was die Peergroup oder die Social-Media-Blase sagt. Die neue Form der Unmündigkeit: Bei aller Freiheit nie gelernt haben, frei zu denken. Pseudo autonom entscheiden, Hauptsache nicht anecken. "Nee, Ostern habe ich noch nie gefeiert. Warum? Keine Ahnung, weiß gar nicht, was da gefeiert wird. Ob ich an Gott glaube? Kommt drauf an, wie brenzlig die Lebenssituation ist. Nicht so richtig, aber ein Stoßgebet im Flugzeug kann schon sein." 

Und in all der Pluralität nicht mehr den eigenen Standpunkt zu finden, sondern auch die Widersprüche in sich zu haben, die zwar in der Gesellschaft nebeneinander bestehen können, aber nicht alle gleichzeitig von einer Person gelebt werden können. Ja zu allem: Buddhismus und Christentum und Islam und Naturreligionen. Natürlich nichts wirklich, aber alles ein bisschen. Ein bisschen Meditation. Judentum ist eigentlich auch ganz schön. Ja, Gott, vielleicht gibt es den. Offiziell bin ich evangelisch. Bäume umarmen bringt mich wieder in die Natur. Die große Beliebigkeit.

Gesunde Formen von Religion und Spiritualität erkennen können

Yoga, Meditation und esoterische Angebote nehmen zu - das Interesse an Spiritualität ist ungebrochen. Aber haben wir das Wissen und die Fähigkeit, seriöse von unseriösen Angeboten zu unterscheiden? Erkennen wir missbräuchliche Strukturen, die Wissensgefälle und Hierarchien in Religionen, aber auch in pseudoreligiösen Angeboten ermöglichen? Können wir toxische von gesunder religiöser Praxis unterscheiden? Genau dies könnte und sollte im Fach Religion vermittelt werden.  

Seit Menschengedenken haben Menschen eine Weltanschauung oder eine Religion. Etwas Unschätzbares und Grundlegendes muss darin enthalten sein. Einen Sinn im Leben zu entdecken, große Zusammenhänge zu sehen und das, was man glaubt, immer weiter zu verfeinern - das kann unglaublich bereichernd sein. Eine Perspektive im Leben zu entwickeln. Das Warum, das Wofür und das Wie suchen und auch finden, vielleicht immer wieder neu und immer genauer. Das Fach Religion soll genau dabei helfen. 

Fazit

Religionsunterricht kann helfen, sich selbst orientieren zu lernen. Er soll helfen, gesunde Formen von Religion oder Weltanschauung zu finden. Er soll die Kraft aufzeigen, die in der Beschäftigung mit den großen Fragen des Lebens liegt.  

Je freier und unabhängiger wir leben können, desto mehr Verantwortung trägt jeder Einzelne dafür. Also auf geht’s: Junge Menschen mündig machen. Und ihnen die Kompetenz an die Hand geben, ihre eigene Weltanschauung selbstbestimmt zu gestalten.

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