1) Methodik

Seit 1972 erscheint etwa alle zehn Jahre die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. In der Religionssoziologie gilt diese regelmäßige Untersuchung als Flaggschiff. Für die am Dienstag in Ulm vorgestellte Studie wurden erstmals auch repräsentative Ergebnisse für katholische Kirchenmitglieder mit erhoben. Die Befragung fand zwischen Oktober und Dezember 2022 durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa statt.

Insgesamt wurden 5.282 Personen befragt. In der aktuellen Erhebung wurde zudem eine Verzerrung behoben: In den zurückliegenden Studien waren stets mehr Menschen befragt worden, die religiös waren. Das wurde nun korrigiert.

2) Mitglieder

Ein zentraler Befund der Studie ist, dass nicht nur die Kirchenbindung, sondern auch die Religiosität in der Gesellschaft deutlich zurückgeht. Derzeit ist noch eine knappe Mehrheit der Deutschen christlich-konfessionell gebunden: Werden alle christlichen Konfessionen zusammengezählt (also Evangelische, Katholische, Orthodoxe und andere kleine Gemeinschaften wie die Freikirchen), machte deren Bevölkerungsanteil Ende 2022 52 Prozent aus.

23 Prozent der Deutschen sind evangelisch, 25 Prozent katholisch, 43 Prozent konfessionslos, 9 Prozent gehören anderen Religionsgemeinschaften an.

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass nach derzeitigem Trend im Jahr 2024 der Anteil der christlich-konfessionell Gebundenen unter 50 Prozent sinken wird. Die Konfessionslosen werden voraussichtlich im Jahr 2027 die 50-Prozent-Marke überschreiten und damit auch die absolute Bevölkerungsmehrheit stellen.

3) Religiosität

Kirchenmitgliedschaft und Religiosität sind aber nicht gleichzusetzen: Religiöse Menschen sind in der Gesellschaft deutlich in der Minderheit. 13 Prozent der Befragten verstehen sich als kirchlich-religiös, 25 Prozent als religiös-distanziert, 56 Prozent sind Säkulare.

Denn rund ein Drittel der Kirchenmitglieder betrachten sich nicht als religiös, wie die Erhebung zeigt.

4) Kirchenbindung

Eine wirkliche kirchliche Bindung ist nur bei 40 Prozent der Gläubigen gegeben. Nur etwa vier Prozent der Katholischen sind sogenannte gläubige Kirchennahe, bei den Evangelisch-landeskirchlichen sind es sechs Prozent. 36 Prozent der Katholiken und 33 Prozent der Evangelisch-landeskirchlichen sind sogenannte kritische Kirchenverbundene.

Die Verbundenheit fällt zudem je nach kirchlicher Organisationsebene unterschiedlich aus. So fühlen sich die meisten Kirchenmitglieder mit ihrer jeweiligen Ortsgemeinde am stärksten verbunden. Am wenigsten verbunden fühlen sich die befragten Katholiken im Übrigen mit dem Papst, nämlich nur sechs Prozent.

5) Austritte

Die Werte der Studie zeigen vor allem für die katholische Kirche eine Vertrauenskrise. Katholische vertrauen der evangelischen Kirche mehr als ihrer eigenen Kirche. Aus Sicht der Konfessionslosen liegt die katholische Kirche auf dem letzten Bewertungsplatz, gleichauf mit dem Islam. Hinzu kommt, dass nur 27 Prozent der Katholiken einen Kirchenaustritt derzeit ausschließen. Bei den Evangelischen sind es 35 Prozent. Bei der Untersuchung vor neun Jahren waren es noch 74 Prozent.

Evangelische treten der Studie zufolge vor allem deshalb aus, weil ihnen das Thema Religion und Kirche in einem längeren biografischen Prozess gleichgültig geworden ist. Bei den Katholischen spielen hingegen Emotionen wie Zorn und Wut über die eigene Kirche eine viel größere Rolle als eine schleichende Gleichgültigkeit.

Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung kommt außerdem zu dem Schluss, dass die vor fünf Jahren durch eine andere Studie prognostizierte Halbierung der Mitgliederzahl in der evangelischen Kirche bis 2060 bereits in den 2040er Jahren erreicht sein dürfte. Im Zeitraum 2023 bis 2025 sei mit dem Austritt von insgesamt fast einer Million evangelischer Kirchenmitglieder zu rechnen, im Zeitraum bis 2030 mit dem Austritt von insgesamt 3,2 Millionen Menschen. Außerdem verliere die Kirche zusätzlich auch durch den demografischen Wandel und durch sinkende Taufquoten an Mitgliedern.

Bei den Katholiken könnte dieser Prozess sogar noch schneller voranschreiten, heißt es in der Studie. Die Studienautoren sprechen daher von einem "Kipppunkt", der schon in den nächsten Jahren "in erhebliche Instabilitäten und disruptive Abbrüche" hineinführen könne.

6) Reformen

Eine Mehrheit der Befragten spricht sich für Reformen in der Kirche aus. 80 Prozent aller Evangelischen stimmen der Aussage zu, dass sich die Kirche grundlegend verändern muss, wenn sie eine Zukunft haben will. Bei den Katholischen sind es sogar 96 Prozent, darunter stimmen besonders religiöse Katholische zu 92 Prozent dieser Aussage zu. So würden 95 Prozent der befragten Katholischen befürworten, wenn Priester heiraten dürften.

86 Prozent aller Katholischen, darunter 82 Prozent der besonders religiösen, stimmen auch der Segnung von homosexuellen Paaren zu. Bislang wird beides von der katholischen Lehre abgelehnt. Eine deutliche Mehrheit der befragten Katholiken und Protestanten ist auch dafür, dass beide Kirchen stärker ökumenisch zusammenarbeiten.

7) Erwartungen an die Kirchen

Eine Mehrheit der befragten Kirchenmitglieder lehnt die Aussage ab, die Kirche solle sich auf die Beschäftigung mit religiösen Fragen beschränken. Konfessionslose stimmen dieser Aussage zwar zu etwa 60 Prozent zu, befürworten aber punktuell gesellschaftliches Engagement der Kirchen, etwa den Einsatz für Geflüchtete.

Der Aussage, die Kirchen sollen sich konsequent für Geflüchtete und die Aufnahme von Geflüchteten einsetzen, stimmen 73 Prozent der Konfessionslosen, 77 Prozent der Evangelischen und 80 Prozent Katholiken zu. 78 Prozent der Konfessionslosen sind dafür, dass die Kirchen Beratungsstellen für Menschen mit Lebensproblemen betreiben soll. Das zeigt, dass obwohl die Religiosität in der Gesellschaft abnimmt, immer noch viele Menschen die Angebote der Kirche gerade im sozialen Bereich wertschätzen.

Anders sieht dies etwa für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen aus: Diesen lehnt eine Mehrheit der Konfessionslosen (71 Prozent) ab.

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