Die Frage, ob man in Afrika Weihnachten kennt, stellen sich Bob Geldof, Phil Collins, Sting, Paul McCartney (und Co.) jedes Jahr aufs Neue, wenn "Do They Know It‘s Christmas" in den Spotify-Charts, auf Weihnachtsfeiern oder beim Einkaufen rauf und runter läuft. Dabei handelt es sich eigentlich um eine Benefiz-Single, die Bob Geldofs "Band Aid" 1984 veröffentlichte und die den irischen Sänger innerhalb kürzester Zeit zu einer Art humanitären Popstar machte.

Die Hintergründe des Songs

Äthiopien erlebte in den Jahren 1984/85 eine der schwersten Hungerkatastrophen seiner Geschichte, bei der knapp eine Million Menschen starben. Am 23. Oktober 1984 berichtete die BBC mit schockierenden Aufnahmen über die damalige Hungersnot in dem ostafrikanischen Land. Auch andere Fernsehsender in Europa und den USA griffen die erschütternden Bilder auf.

"Der Süden exportiert Elendsbilder wie Verbrauchsgüter. Der Norden reagiert mit Zahlungen", kritisierte Jonatahn Benthall - einer der führenden Anthropologen Großbritanniens.

Die unmittelbare Reaktion auf die humanitäre Krise war eine Welle gut gemeinter Hilfsaktionen, die zu einer erhöhten Hilfsbereitschaft führte. Gleichzeitig verfestigte sich jedoch ein stereotypes Afrikabild, das die Vorstellung von hilflosen Afrikanern auf der einen und europäischen Helfern auf der anderen Seite hartnäckig aufrechterhielt und reproduzierte.

Katastrophenberichte: Die Rolle der Medien und ihre starren Narrative

Die erschreckenden Bilder in den 24-Stunden-Nachrichtensendungen ließen schnell ein falsches Bild des Kontinents entstehen, der als "Land" der Armut, des Krieges und der wilden Tiere beschrieben wurde. Der Norden wurde als Retter dargestellt, der die "Armut Afrikas" beenden wollte. Hinter diesen Bildern verbirgt sich ein starres Narrativ, das durch vereinfachte Erzählungen deutlich macht, wer die "Bedürftigen" und wer die "Retter" sind.

Die komplexen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge, die hinter einer Hungerkatastrophe in einem der zahlreichen Länder des Kontinents stehen, wurden hingegen ignoriert. Beispiele sind der Kampf der Rebellen in der nördlichen Provinz Eritrea für die Unabhängigkeit des Landes von Äthiopien oder die jahrzehntelange politische Instabilität nach dem Sturz des Kaisers Haile Selassie. Diese Faktoren passen nicht in das Schema einer einfachen Erzählung. Was bleibt, sind lediglich die entwürdigenden Bilder von Katastrophenopfern.

Mehr Zuschreibung als afrikanische Realität

Bob Geldof sah im Fernsehen eine BBC-Reportage über die Hungersnot in Äthiopien und beschloss zu helfen. Zusammen mit seinem Musikerkollegen Midge Ure schrieb er den Song "Do they know it‘s Christmas" und gründete die "Band Aid".

Innerhalb kürzester Zeit nahm er den Song zusammen mit vielen anderen prominenten britischen Stars auf. Kurz darauf erreichte die Single Platz 1 der britischen Charts und hielt sich dort fünf Wochen lang. In dieser Zeit wurden 3,7 Millionen Singles verkauft. Dieser Rekord wurde erst 1997 von Elton Johns "Candle in the Wind" mit fast 5 Millionen verkauften Singles übertroffen.

Der Erfolg der Single inspirierte Geldolf zur Gründung von Live Aid. Im Sommer 1985 versammelte sich im Wembley-Stadion alles, was bis Mitte der 80er Jahre in der Pop- und Rockszene Rang und Namen hatte. Hundert Millionen Menschen auf der ganzen Welt verfolgten das Ereignis, dessen Einnahmen als Spende nach Äthiopien gingen. Trotz der medialen Aufmerksamkeit blieben die Hintergründe und Ursachen des Charity-Auftritts im Verborgenen. Und die Frage, ob das Geld bei den hungernden Menschen in Äthiopien angekommen ist, bleibt bis heute ungeklärt.

Auslöser der Hungersnot in Äthiopien war keine Naturkatastrophe, sondern kommunistische Misswirtschaft und Zwangsumsiedlung. Staatschef Mengistu plante, den aufständischen Norden durch ein Umsiedlungsprogramm zu entvölkern. Menschen, die sich dem widersetzten, wurden ohne Nahrung zurückgelassen. Die BBC berichtete dagegen von einer "biblischen Katastrophe", was auf ein Ereignis hinweist, das unkontrollierbar über Menschen hereinbricht  (vgl. Baumeister, M./Brückner, T./ Sonnack, P. (Hrsg.), Wo liegt die ‚Humanitäre Schweiz‘? Eine Spurensuche in 10 Episoden, Frankfurt a.M. (Campus) 2018, 202f.).

Ja, sie wissen, dass Weihnachten ist!

Die Medien und das Wohltätigkeitsprojekt "Band Aid" haben sowohl die Hintergründe der Hungersnot als auch die Absichten der äthiopischen Regierung verschleiert. Die politische Dimension der Hungersnot wurde verschwiegen.

Das ist ein Fall von verzerrtem, stark paternalistischem und stereotypem Afrikabild. Deutlicher wird dies bei genauerer Betrachtung des Liedtextes. Äthiopien wird an keiner Stelle erwähnt. Stattdessen ist von "Afrika" die Rede, das pars pro toto für eines von insgesamt 54 Ländern steht. Das ist falsch, denn die Hungersnot betraf nur Äthiopien, insbesondere den Norden des Landes, und nicht den gesamten Kontinent. Die problematischste Strophe des Liedes lautet:

"Und dieses Jahr wird es keine weiße Weihnacht in Afrika geben. Das größte Geschenk, das sie dieses Jahr bekommen, ist das Leben. Wo nichts jemals wächst, kein Regen oder Fluss fließt. Wissen sie überhaupt, dass die Weihnachtszeit angebrochen ist?"

Auch die Behauptung, dass es in Afrika nie regnet und keine Flüsse fließen, ist falsch. Obwohl Teile Afrikas von Dürre betroffen sind, durchfließt der längste Fluss der Welt, der Nil, den Kontinent und viele Gebiete sind häufig von Überschwemmungen durch extreme Regenfälle bedroht. Afrika hat auch eine große Vielfalt an Landschaften und Klimazonen, einschließlich einer atemberaubenden Schneelandschaft im Kilimandscharo-Gebirge in Tansania.

Hinzu kommt, dass fast 40 Prozent der afrikanischen Bevölkerung dem Christentum angehören. Geht man also davon aus, dass die Menschen unwissend sind? Oder geht man davon aus, dass die christliche Botschaft einen Bogen um Afrika machen würde? Oder glauben die Interpreten dieser Liedzeile, dass sie selbst, quasi als Engel, die Botschaft in die entlegensten Winkel der Welt bringen müssen?

Wie feiert Äthiopien Weihnachten?

Und noch eine Frage stellt sich: Wissen wir, wann Äthiopien Weihnachten feiert? Sowohl Äthiopien als auch die orthodoxe Kirche verwenden den julianischen Kalender. Dort wird die Geburt Christi etwa acht Jahre und neun Monate später angesetzt. Daher wird das äthiopische Weihnachtsfest Genna nicht am 24. Dezember., sondern am 7. Januar gefeiert.

Der Titel und der Inhalt des Liedes offenbaren also auf drastische Weise, dass die mediale Fokussierung und ihre Wirkung nicht zur Aufarbeitung bestehender Wissenslücken und verfestigter Sichtweisen beigetragen hat, sondern diese im Gegenteil reproduziert.

Timkat Festival Drei Könige Äthiopien
Das Timkat Festival in Addis Abeba in Äthiopien. Ein Prozessionszug zum Timkat-Fest. Wesentlich bekannter als das "Genna" Fest ist das äthiopische Timkat-Fest, das an die Taufe Jesu im Jordan und die Epiphanie (Erscheinung des Herrn) erinnern soll. Bei uns wird das Fest der Epiphanie am Dreikönigstag begangen. In Äthiopien findet Timkat am 10. Tag des Ṭərr-Monats statt.

Und nun?

Wir sollten uns von der Unterscheidung zwischen Handelnden und Behandelten lösen und aufhören, in Kategorien von 'oben' und 'unten' zu denken. Dieses Denken scheint immer noch tief in unserem europäischen Bewusstsein verwurzelt zu sein. Das ist kein Phänomen der achtziger Jahre. Erst 2014 wurde das Lied anlässlich seines 30-jährigen Jubiläums neu interpretiert und in Großbritannien mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.

Als Europäer oder Menschen des globalen Nordens sollten wir uns bewusst sein, dass wir keine Deutungshoheit über andere Länder haben. Gerade in der Weihnachtszeit sollten wir uns bemühen, stereotype Denkweisen abzulegen und uns auf die frohe Botschaft zu besinnen, dass wir das Licht Gottes in uns tragen - unabhängig von Kontinentgrenzen und unterschiedlicher Hautfarbe.

Die Weihnachtsgeschichte lehrt uns, dass sich das wahre Leben an den Rändern abspielt. Gott wird uns gleich, damit wir aufhören zu vergleichen. Er ist einer von uns, er ist zu uns gekommen als einer unter Gleichen. Aber Gott zu finden ist unvergleichlich schwer, denn er ist dort, wo ihn niemand vermutet.

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