Für Annette Kurschus schließt sich ein Kreis: Gut vier Monate nach ihrem Rücktritt als oberste Protestantin in Deutschland wird die Theologin aus Leidenschaft wieder Pastorin und Seelsorgerin. Der "ursprüngliche pastorale Dienst" habe ihr in ihren großen kirchlichen Leitungsämtern oft gefehlt, sagt die 61-Jährige, die ab April neue Aufgaben im großen Diakonie-Unternehmen Bethel in Bielefeld übernimmt. "Ich werde wieder viel unmittelbarer mit den Lebensgeschichten unterschiedlichster Menschen in Berührung sein."

Nach Vorwürfen mangelnder Transparenz im Umgang mit einem mutmaßlichen Missbrauchsfall an ihrem früheren Arbeitsort Siegen hatte Kurschus am 20. November ihre Ämter als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und als Präses der westfälischen Landeskirche niedergelegt. Ein radikaler Einschnitt, wie sie in ihrer Rücktrittserklärung sagte: Die beiden "mit Leidenschaft und mit Herzblut" ausgeübten Ämter hätten jahrelang ihr ganzes Denken und Handeln bestimmt und seien Mittelpunkt ihres Lebens gewesen.

Relativ zeitnah nimmt die reformierte Theologin nun in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel eine neue Tätigkeit auf, die ihr wie auf den Leib geschnitten scheint: Leitung der Ethik-Kommission, theologische Bildungsarbeit, seelsorglicher Dienst in einem Hospiz und dazu "vielfache Vortrags- und Predigttätigkeit". Auch an der Spitze von westfälischer Kirche und EKD verstand sich die Pastorentochter, die im pietistischen Siegerland aufwuchs, stets in erster Linie als Pastorin und Seelsorgerin. Bibel und Theologie sind für sie "die Quellen, aus denen wir leben und reden und handeln".

Auch über Bethel hinaus kann Kurschus nach einer Vereinbarung mit der westfälischen Kirche weiterhin predigen und Vorträge halten - eine Stärke der 1963 in Rotenburg an der Fulda geborenen Theologin, die als begnadete Rednerin mit Sprachgefühl und feinem Humor gilt. Vielen präsent ist nach wie vor, wie sie 2015 nach dem Germanwings-Absturz mit 150 Toten im Trauergottesdienst im Kölner Dom das Entsetzen einfühlsam in Worte fasste. Auch der ZDF-Gottesdienst zu Ostern 2020 während des ersten Corona-Lockdowns brachte ihr viel Anerkennung ein. Die Universität Münster verlieh Kurschus 2019 für ihre Redekunst die Ehrendoktorwürde, 2021 bekam sie den Ökumenischen Predigtpreis.

In der Öffentlichkeit trat Kurschus nach ihrem Rücktritt erstmals Mitte Januar bei der Trauerfeier für den früheren westfälischen Präses Hans-Martin Linnemann (1930-2024) auf, bei der sie die Predigt hielt. Für ihre Tätigkeit in Bethel kann sie Bielefeld als Wohnort beibehalten, zudem bleibt sie Pfarrerin der Evangelischen Kirche von Westfalen. Fast zwölf Jahre stand Kurschus als leitende Theologin an der Spitze der viertgrößten deutschen Landeskirche mit rund zwei Millionen Mitgliedern, die nun über ihre Nachfolge entscheiden muss. Auf EKD-Ebene fällt die Entscheidung über die Kurschus-Nachfolge im Ratsvorsitz vermutlich im November.

Laut westfälischer Kirchenordnung müsste auch das Präses-Amt spätestens auf der nächsten Tagung der Landessynode im November neu besetzt werden. Die Wahl könnte sich aber noch deutlich verzögern: Das Kirchenparlament nimmt die Vakanz zum Anlass, am kommenden Samstag zunächst auf einer Sondersitzung über den Zeitplan und eine mögliche Verschlankung des Amts zu diskutieren. Im Blick ist dabei vor allem die Aufgabenfülle: Der oder die Präses (Lateinisch für "Vorsitzender") leitet bislang nicht nur das oberste Organ, die Landessynode, sondern auch die Kirchenleitung und das Landeskirchenamt in Bielefeld.

Auch ohne die Personalfrage steht die westfälische Kirche vor schwierigen Aufgaben. Wegen eines großen Finanzlochs ist die Landeskirche derzeit erstmals ohne genehmigten Etat, es gilt eine Haushaltssperre. Auf einer zweitägigen Landessynode Anfang Mai müssen deshalb ein Nachtragshaushalt und ein Haushaltssicherungskonzept vorgelegt werden. Auch die Konsequenzen aus der im Januar veröffentlichten unabhängigen Studie zu sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie werden in den kommenden Jahren viel Zeit, Geld und Energie in Anspruch nehmen. Tröstlich könnte ein mehrfach geäußerter Satz der früheren Präses Kurschus sein: "Es geht mit uns - Gott weiß wohin."

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